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Aus: Schütz, V./ Bähr, J.(Hg.): Musikunterricht heute 2 Lugert-Verlag Oldershausen 1997 S. 40 - 48

 

Franz Amrhein

Sensomotorisches und musikalisches Lernen

 

Das erklärte Ziel des Musikunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen, die "Introduktion in Musikkultur", d.h. der Aufbau der Bereitschaft und Fähigkeit zum hörenden und verstehenden Umgang mit Musik wird nicht annähernd erreicht. Die genannte Bereitschaft und Fähigkeit spielt im Leben der meisten Schülerinnen und Schüler kaum eine Rolle. Dies liegt weniger an ihrer Unlust oder Unfähigkeit, sondern vielmehr daran, daß der Unterricht nicht die Voraussetzungen für das Hören und Verstehen von Musik schafft. Der Musiklehrer selbst versteht Musik, weniger, weil er etwas über sie weiß, als vielmehr, weil er sie macht. Es sind vor allem die unzähligen Stunden übenden Be-Greifens - im Zusammenspiel von Händen, Augen und Ohren, die ihn zum Hören und Verstehen von Musik befähigen. Ohne die handelnd erworbenen instrumentalen und stimmlichen Fertigkeiten hätte er keine Chance auf die Zulassung zum Musiklehrerstudium. Zwar wird die Notwendigkeit eines handlungsorientierten Musikunterrichts nirgends bestritten, die Grundlage jeglicher Handlungsorientierung jedoch häufig übersehen. Diese Grundlage liegt in dem sensomotorischen Zusammenhang, dessen Bedeutung sowohl für allgemeines, als auch für musikalisches Lernen im Folgenden erläutert werden soll.

 

1. Das Schlüsselproblem Sensomotorik

 

Der Musikunterricht in der allgemeinbildenden Schule erhält seine Legitimation weder aus der kulturellen Bedeutung seines Gegenstands, noch aus seiner Tradition im schulischen Fächerkanon, sondern einzig aus der Rolle, die er für die Allgemeinbildung spielen kann. Allgemein bedeutet, daß Bildung allen Menschen zukommt und nicht auf spezielle, sondern auf allgemeine, für das menschliche Leben und Zusammenleben relevante Zusammenhänge abzielt. In der Diskussion um ein neues Verständnis von Allgemeinbildung betont Wolfgang Klafki, diese bestehe weniger in der Aneignung eines Kanons von Kulturgütern, sondern vielmehr darin, "..ein Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und - soweit voraussehbar - der Zukunft zu gewinnen...und an ihrer Bewältigung mitzuwirken." (S.56) Als solche "Schlüsselprobleme" nennt er die Friedens- und Umweltfrage, die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit, das Leben mit den Medien sowie die menschlichen Beziehungen.

Über der Fülle der Probleme in der Umwelt dürfen wir jedoch unsere eigenen Schwierigkeiten nicht vergessen. Die Frage des Umgangs mit sich selbst, der persönlichen Haltung und Befindlichkeit und der daraus resultierenden inneren Spannung oder Balance darf man wohl als ein Schlüsselproblem des Lebens und damit auch der Pädagogik ansehen.

Ein Mensch, dem der Umgang mit sich selbst nicht gelingt, ist nicht in seinem Gleichgewicht und hat in der Regel auch Probleme mit seiner Umwelt. Dies kann nicht befriedigen, sondern nur frustrieren. Den Zustand der Frustration erklärt der Biologe Wolfgang Wieser so: "Ein frustrierter Mensch ist einer, dem der adäquate sensorische Anlaß zum Tun ebenso fehlt wie ihm die motorische Erfüllung eines Großeils seiner Wahrnehmungen mangelt."(S.54) Dieser Mensch befindet sich in einem Teufelskreis: er handelt blind oder taub, d.h. seine Augen, Ohren, Empfindungen sind nicht bei seinen Tätigkeiten und er hat keine Chance, auf die 'Sensationen', die er täglich hört, sieht, empfindet, mit angemessener Tätigkeit zu reagieren.  "Dem Übermaß des Reizangebotes ohne motorische Konsequenz entspricht...ein Übermaß an motorischer Aktivität ohne sensorische Relevanz." (Wieser,S.54) Die fehlende Balance zwischen Aktivität und sinnlicher - sinnvoller Erfahrung, zwischen Eindrücken und Ausdrucksmöglichkeiten, zwischen "Merkwelt und Wirkwelt" (V.v.Weizsäcker) muß auf Dauer zu Frustration und in ihrem Gefolge entweder zu Aggression oder zu Apathie führen.

Umgekehrt führt ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Sinneseindruck und Handlung zum Gegenteil von Frustration, was  Jean Ayres folgendermaßen erklärt: "Die Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen sinnvoll ordnen zu können, vermittelt uns Befriedigung und die Befriedigung wird noch größer, wenn Empfindungen auch mit angepaßten Reaktionen beantwortet werden können." (S.9) Befriedigung, Wohlbefinden hängt also mit dem Gleichgewicht zwischen sinnlichem Ein- und Ausdruck zusammen. Das von Ayres entwickelte Konzept der "Sensorischen Integration" spielt eine große Rolle in der Diskussion über menschliche Entwicklung und Möglichkeiten der Entwicklungsförderung. "Sensorische Integration ist der Prozeß des Ordnens und Verarbeitens sinnlicher Eindrücke (sensorischen Inputs), sodaß das Gehirn eine brauchbare Körperreaktion und ebenso sinnvolle Wahrnehmungen, Gefühlsreaktionen und Gedanken erzeugen kann." (S.37) Eine solche Integration, die sich nicht nur auf Bewegung und Wahrnehmung, sondern auch auf Fühlen und Denken bezieht, bewirkt das Gegenteil von Frustration, nämlich Befriedigung und Freude: "Ein Kind, das Erfahrungen mit Anforderungen macht, auf die es sinnvoll reagieren kann, hat Spaß. In gewissem Sinn ist Spaßhaben ein Inbegriff für gute sensorische Integration des Kindes." (S.9)

 

Das "persönliche" Schlüsselproblem besteht also in der gestörten sensomotorischen Balance, die zu mehr Frustration und weniger Freude, zur Minderung der Lebensqualität führt. Dieses 'sensible' Defizit kann kaum auf diskursivem Weg, sondern nur durch sinnliche Erfahrung, durch Übung von Bewegung und Wahrnehmung abgebaut werden. Bevor Möglichkeiten des Musikunterrichts als Spielraum zur lustvollen Integration der Sinne aufgezeigt werden, ist es jedoch nötig, den für "Lust und Frust" mitverantwortlichen sensomotorischen Zusammenhang näher zu betrachten. Dies ist umso wichtiger, als die grundlegenden physiologischen Gegebenheiten gegenüber ästhetischen, psychologischen, soziologischen häufig vernachlässigt werden.

 

2. Die Einheit von Wahrnehmung und Bewegung - Senso-Motorik

 

Menschliches Leben spielt sich auf vier Ebenen ab: wir nehmen uns und unsere Umwelt wahr, bewegen uns, fühlen und denken. Diese vier Ebenen sind untrennbar verbunden: von unserer Wahrnehmung werden Bewegung, Gefühl und Denken beeinflußt. Unser Denken beeinflußt Wahrnehmung, Bewegung und Gefühl. Unsere Gefühle hängen von Wahrnehmungen, Bewegungen und Gedanken ab und die Bewegungen von dem, was und wie wir wahrnehmen, fühlen und denken. (Feldenkrais 1978 S.31ff, S.56ff) Sowohl in der phylo- als auch in der ontogenetischen Entwicklung ist jedoch der Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung das Primäre, dem sich bereits im Mutterleib wesentliche Erfahrungen einprägen. Aus ihm entwickeln sich später die Ebenen des bewußten Fühlens und Denkens. Piaget bezeichnet die ersten Lebensjahre des Kindes als "sensumotorische Periode", in der sich die "sensumotorische Intelligenz" als Basis menschlichen Vermögens entwickelt. Zwar werden unsere Bewegungen immer klarer von Gedanken, Gefühlen, Assoziationen bestimmt und die Verantwortung für unser Handeln geht vom Sensorium auf das ganze Gehirn über. Trotzdem sind die "höheren" Tätigkeiten des Gehirns stets auf das Funktionieren der basalen sensomotorischen Fähigkeiten angewiesen. Die Arbeit Moshe Feldenkrais' (1904-1984) und seiner  Schüler beruht auf dem Zusammenhang der vier Ebenen menschlicher Existenz, auf der Einsicht, daß die sensomotorische Ebene für Lernprozesse am zugänglichsten ist und sensomotorisches Lernen sich auch auf die emotionale und kognitive Ebene auswirkt. Feldenkrais versteht sich nicht als Therapeut, sondern als Lehrer, der dem Schüler durch differenzierte verbale oder taktile Impulse zur Klarheit über seine Körperhaltung und zur Erweiterung seines Bewegungsrepertoires verhilft. Seine These über die Wirkung von Bewegung auf die Hirnfunktionen, die in dem Buchtitel "Bewußtheit durch Bewegung" (1968) zum Ausdruck kommt, leuchtet ein, wenn man sich vergegenwärtigt, "daß es die Hauptaufgabe des Gehirns ist, adaptives Verhalten zu erzeugen - nämlich Bewegungen." (Thompson, S.338)

Sensomotorik, das sind zwei Aspekte unserer Existenz, die sich wie Kehrseiten einer Münze verhalten: wir erhalten über das Sensorium - durch Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen und Tasten, (die heterozeptiven Sinne) sowie durch den kinästhetischen bzw. vestibulären (propriozeptiven) Sinn, der für Bewegungs-, Gleichgewichts- und Muskelempfindung zuständig ist, - Informationen von der Außen- und Innenwelt (dies ist die 'afferente' Seite), und unser Körper oder seine Teile sind in ständigen inneren oder äußeren Veränderungen begriffen, wir bewegen uns und handeln (dies ist die 'efferente' Seite). Wir sind nicht einerseits aktiv Handelnde und andererseits passiv Wahrnehmende, sondern befinden uns in einem Regelkreis: die Wahrnehmung hat auch motorische und die Bewegung auch sensorische Anteile. Das bedeutet, die Qualität einer Bewegung und ihres Ergebnisses (eines Tanzschrittes, der Bewegung der Stimme beim Singen oder der Hände beim Instrumentalspiel) hängen nicht nur von der motorischen Fertigkeit, sondern ebenso von der Empfindlichkeit der Wahrnehmung ab. Die im Zusammenspiel der beiden Systeme gelingenden Bewegungen nennt Lurija "kinetische Melodien". (S.177)

Sensomotorik unterscheidet sich insofern von Psychomotorik als Psyche eine komplexere, entwicklungsgeschichtlich spätere Ebene bezeichnet, auf der Bewegungen mit Assoziationen, Gefühlen, Gedanken usw. integriert sind. Da die Integration auf dieser Ebene von einer bewegungs- und leibfeindlichen Umwelt häufig erschwert wird, versucht Sensomotorik bei der noch unbefangenen Beziehung zwischen Sinnesreiz und Bewegungsantwort anzusetzen. Bei aller Komplexität unserer Lebensvollzüge dürfen wir deren Basis nicht vergessen, auf die sich Ayres bezieht, wenn sie sagt: "Lernen und Verhalten sind sichtbare Aspekte der Wahrnehmungsverarbeitung von Sinnesreizen" (S.36). Diese sichtbaren Aspekte sind nichts anderes als unsere Bewegungen und Handlungen.

Was die Beziehung zwischen dem sensiblen Aspekt Hören und dem motorischen Aspekt Singen angeht, konnte Tomatis nachweisen, daß die Stimme nur die Frequenzen als Obertöne enthält, die das Ohr auch hört und das Resümee seiner umfangreichen Forschungen lautet: "Gibt man dem Ohr die Möglichkeit, nicht mehr oder nicht gut wahrgenommene Frequenzen wieder korrekt zu Hören, so treten diese augenblicklich und unbewußt wieder in der Stimme in Erscheinung." (S.13) Dabei handelt es sich nicht um ein Reiz-Reaktionsschema, sondern um die Integration von Hören, Stimmemfindung und Stimm-Motorik, um den sensomotorischen Bezug.

V.v.Weizsäcker bezeichnet diesen sensomotorischen Bezug als "Gestaltkreis", in dem sich das "Grundverhältnis" des Lebens spiegelt, für das nicht das "Kausalitätsprinzip", (Ursache und Wirkung), sondern das "Koinzidenzprinzip", (der unlösliche Zusammenhang), maßgeblich ist. (S.118/167) Die Gleichgewichtigkeit und Gleichzeitigkeit von Wahrnehmung, Bewegung und Bewegungsempfindung ist es, die die Aufmerksamkeit ganz auf die Gegenwart, den jetzigen Moment, fokussiert, uns "präsent" sein läßt. Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Konzentration sind weniger, wie häufig angenommen wird, mentale, sondern vor allem physische - sensomotorische Gegebenheiten.

 

Das Körpergefühl im Ohr

 

Im Innenohr befinden sich umschlossen vom knöchernen und häutigen Labyrinth (die wiederum in das 'Felsenbein', die härteste Substanz des menschlichen Körpers, eingelassen sind) zwei Sinnesorgane in enger Verbundenheit: der phylo- und ontogenetisch ältere Bewegungs- und Gleichgewichtssinn (das vestibuläre System) und der Gehörsinn (das cochleare System). Tomatis hat - vor allem durch seine Forschungen an Embryonen - nachgewiesen, daß das vestibuläre System nicht nur das Gleichgewicht reguliert und die Bewegungen steuert, sondern auch auf Hörbares reagiert. "Wenn Schallwellen das Ohr erreichen, wird das gesamte vestibulo-cochleare System aktiv und nicht, wie gemeinhin angenommen, der cochleare Apparat allein." (S.63)  Er kommt zu dem Schluß, daß bei der Hörwahrnehmung das Gleichgewichtsorgan "eine Art Quantifizierung nach rhythmischen Kriterien unter Beteiligung des ganzen Körpers vornimmt" und daß im Gehörorgan diese Information "nach qualitativen Kriterien analysiert wird." (S.65) "Auf akustischer Ebene beschränkt sich die Funktion des Gleichgewichtorgans sicher in erster Linie auf die Erfassung von Rhythmen. Durch Vermittlung letzterer entsteht eine bestimmte Vorstellung vom Körper, ein Körperbild, und zwar durch die körperliche Erfassung dieser Rhythmen." (S.64) Im Ohr befindet sich also nicht nur ein heterozeptives Organ, das Informationen von außen aufnimmt, sondern zugleich auch ein propriozeptives, das über den inneren Zustand informiert. Aufgrund dieser Einsichten kann Tomatis behaupten, unser Körpergefühl sitze im Ohr (S.19) und umgekehrt kann man sagen, daß wir Musik nicht nur mit den Ohren, sondern mit dem ganzen Körper hören.

 

 Sensorische und motorische Nervenzentren

 

Was wir hören, wird im Innenohr in dem beschriebenen Zusammenhang registriert und vom 8. Gehirnnerv, dem Nervus vestibulocochlearis, der sowohl Bewegungs- als auch akustische Informationen aufnimmt, zunächst in tiefere Regionen zur weiteren Verarbeitung transportiert. Das Stammhirn, das "Wachzentrum" schützt vor Reizüberflutung und entscheidet, ob das Gehörte von Interesse ist. Im Mittelhirn (vor allem in Thalamus, Hypothalamus und limbischem System) erfolgt die gefühlshafte Wertung, es werden Verbindungen zum vegetativen System (Hormonausschüttung, Kreislauf, Blutdruck usw.)  und zu Zentren der visuellen Wahrnehmung hergestellt. Eine weitere Station ist das Kleinhirn, das Zentrum für Bewegungsempfindung und -koordination. Die Großhirnrinde, das Zentrum der Bewußtheit, erreicht die Botschaft aus dem Ohr erst, nachdem sie die für Bewegungsempfindung und Gefühle zuständigen Zentren durchlaufen hat. In der Rinde selbst trifft das, was wir hören, auf drei benachbarte Areale: das Hörzentrum sowie die senorischen und motorischen Rindenfelder. Im Hörzentrum findet die endgültige Bewertung der klanglichen Welt statt. In den sensorischen und motorischen Feldern sind die Körperregionen, mit denen wir fühlen, bzw. die Muskeln, die wir bewegen, repräsentiert. Zeichnet man auf diese fast symmetrischen Felder die entsprechenden Körperregionen, so erhält man den sensorischen, bzw. motorischen "Homunculus", bei dem die Regionen für empfindliche Körperteile bzw. für besonders differenzierte Bewegungen (z.B. von Fingern, Händen, Mund, Gesicht) überproportional repräsentiert sind. "Die Cortexmenge, die einer bestimmten Region der Körperoberfläche gewidmet ist, ist der Einsatzhäufigkeit und Empfindlichkeit dieser Region direkt proportional." (Thompson,S.292) Hörzentrum, sensorische und motorische Felder werden wiederum tangiert vom sensorischen und motorischen Sprachzentrum (für Sprachverständnis und Sprechen), d.h. sie stehen in engem Kontakt mit den für rationale Prozesse zuständigen Zentren.

Der notgedrungen lückenhafte neuropsychologische Exkurs sollte belegen, wie klar das sensomotorische System, die Einheit von Bewegung und Wahrnehmung - vor allem der auditiven - in der menschlichen Natur verankert ist. Die Bedeutung der sensomotorischen Einheit für das menschliche Leben und die eingangs angesprochene Tatsache ihrer Gefährdung sprechen dafür, daß die Erfahrung dieser Einheit ein wesentliches Ziel jeglichen Unterrichts sein muß. Im Folgenden soll erläutert werden, inwiefern gerade der Inhalt Musik einen einzigartigen Weg zu dieser Einheit darstellt.

 

 

 

 

3. Leibhaftige Musik

 

Musik entfaltet sich in der Zeit (in Metrum, Takt, Rhythmus) und im (Klang)- Raum (in Melodie, Harmonie, Klangfarbe). Wenn auch beide Ebenen eng zusammenhängen, so sind doch die zeitlichen Parameter die allgemeineren. Die zeitliche Ordnung gilt für alles Hörbare, Musik, Sprache, Geräusch gleichermaßen, während die klangliche nur für Musik maßgeblich ist. Bei rhythmus- oder sprachbetonter Musik kann sich die klangliche Entfaltung auf ein Mininum reduzieren. Metrum, Takt und Rhythmus bilden die körperliche Seite der Musik, führen dazu, daß Musik "vegetativ" und "motorisch" wahrgenommen wird, daß "das Musikerleben der Jugendlichen vor allem sinnlich-körperlich orientiert ist." (Behne,S.128) Die Korrespondenz zwischen Körper und Musik als allgemeiner Zugang zur Musik wird jedoch wenig genutzt. Im Musikunterricht und -studium spielen der Umgang mit Rhythmen eine weit geringere Rolle als der mit Melodien und auch bei der Beschäftigung mit den klanglichen Gegebenheiten interessiert meist mehr das Klanglich-Strukturelle als das Klang-Sinnliche.

Die Gründe für die Vernachlässigung des Körpers in der mitteleuropäischen Musik liegen vor allem in ihrer einzigartigen klanglichen Entfaltung, in ihrer Spiritualität, in ihrer Existenz als Schriftkultur und im Einfluß, den die körperfeindliche christliche Religion auf ihre Entwicklung genommen hat. "Eine Betrachtung im Zusammenhang der abendländischen Musik läßt erkennen, daß die Verbindung von körperlichem Ausdruck mit der musikalischen Darbietung  keineswegs ungewöhnlich ist, sondern daß umgekehrt die Entkörperlichung der Musik als eine spezifische Leistung der abendländisch-christlichen Kultur angesehen werden muß...Das Streben nach Entkörperlichung der Musik war eine der wesentlichen Vorbedingungen für die Entwicklung der Musik als autonome Kunst. ...Dennoch kann nicht übersehen werden, daß die gesamte europäische Musikgeschichte Zeugnis davon ablegt, daß ein elementares Verlangen nach körperlicher Musik sich immer wieder geltend machte...Die Körperlichkeit von Rock und Pop fügt sich in diese elementare Gegenbewegung ein" (Blaukopf,S.56f) Solange gesellschaftliche oder religiöse Normen nicht daran hindern, sind Bewegung und Körperausdruck der unmittelbarste Auslöser und die direkteste Antwort auf Musik. In der mitteleuropäischen Kunstmusik jedoch ist die Körperbewegung der Ausführenden einzig am optimalen Klangergebnis orientiert und die  Bewegung des Publikums beschränkt sich auf das Klatschen, eine Bewegung, die erst einsetzen darf, wenn die Bewegung der Musik zu Ende ist. Die 'Entkörperlichung' der Musik ist der Preis, der für ihre Spiritualität zu entrichten war. Sie erschwert den unmittelbaren Zugang zur Musik und hat letztlich zur Trennung zwischen E- und U-Musik geführt.

Die ursprüngliche Beziehung zwischen Musik und Körper in zahlreichen außereuropäischen Kulturen wird vor allem in den Tänzen, körpernahen Instrumenten und dem Körper, der selbst Instrument, "Body-Music" ist, deutlich. Die wichtigsten Kennzeichen dieser Musik - Dominanz der Zeitfaktoren Puls und Rhythmus, ständige Wiederholung bestimmter "Bausteine" (Elemente, Pattern),  Prozeßcharakter, Improvisationsanteile, sind den Prinzipien, aus denen die abendländische Kunstmusik lebt, entgegengesetzt. Auch die Haltung der Musizierenden und die durch die Musik vermittelten Erfahrungen entsprechen nicht  unseren musikalischen Gewohnheiten. Zur musikalischen Tätigkeit des Einzelnen auf mehreren Ebenen (Füße, Hände, Stimme) kommt die Interaktion der Gruppe. Bei aller Vitalität ist stets höchste Sensibilität für den eigenen Puls und für die Pulsationen der Musik gefordert.  Schließlich geht es um eine intensive Erfahrung von  Zeit: "Es findet weniger musikalische Entwicklung in der horizontalen Zeitachse als in vertikaler Richtung statt: in die Höhe und in die Tiefe...Sie fordert und fördert eine Konzentration auf die Gegenwart.... Wiederholung ist in diesem Fall nichts anderes als ständiges, zyklisches Zurückholen von Vergangenem in die je aktuelle Gegenwart. Bereits Erfahrenes, Gesichertes wird so aufs neue vergegenwärtigt, trifft auf eine völlig angstfreie und unbelastete Wahrnehmung und kann so seine potentielle Energie beim Wahrnehmenden voll zur Wirkung bringen." (Schütz, 1996,S.187)  Nicht nur das "äußere" Schlüsselproblem der transkulturellen Welt, sondern vor allem unsere  eingangs angesprochene innere Problematik müßte uns für solche musikalischen Erfahrungen öffnen.

 

Da wir jedoch unter ganz anderen Umständen aufwachsen und leben als Menschen in ethnischen Kulturen, müssen die für uns bedeutsamen Anteile aus deren Kultur zu unserem Gebrauch übersetzt werden. Erst dann können wir und auf den - nicht einfachen aber lohnenden - Weg zu ihrer Aneignung machen. Solche Übersetzungen und zugleich Vermittlungsstrategien liegen vor in den Konzepten von Reinhard Flatischler "Der Weg zum Rhythmus" (1990) und Volker Schütz "Musik in Schwarzafrika" (1992)  Beiden geht es weniger um musikalische Reproduktion, sondern vor allem um eine neue Art körperlichen Umgangs mit Musik, die ebenso Erfahrung über Musik wie über die eigene Person vermittelt. Flatischler beschreibt dies so: "Mit dem Gehen verkörpere ich mir die Grundpulsation. Mit der Stimme lasse ich ein tragendes Fundament aus Rhythmuswörtern entstehen oder imitiere die Klangfolge der Rhythmen. Mit Klatschen setze ich Akzente und kann damit die Rhythmen gestalten. Wo immer ich auch gerade war, mit dem Instrument meines Körpers war es mir möglich, zu lernen und zu üben...In diesem Prozeß zeigte sich allmählich der Zusammenhang zwischen Rhythmus und meinem Leben...In dem Maße, in dem die Pulsationen meiner Füße sicherer wurden, fühlte ich mich auch sicherer im täglichen Leben ...Das Sprechen von Rhythmen wirkte auch auf den freien Fluß meiner Sprache." (S.93f.)

Ein weiterer Ausgangspunkt für solche Erfahrungen - wenn auch mit anderen Akzenten - ist die Popmusik. Dafür stehen z.B. die Zeitschrift für die Praxis des Musikunterrichts und andere Veröffentlichungen des Instituts für Didaktik populärer Musik (Oldershausen) oder das Buch "Rock- und Poptanz mit Kindern und Jugendlichen" von Renate Müller (1992).

Viele Ansätze gehen vom elementaren Zusammenhang von Musik und Bewegung aus:  das Orff-Schulwerk, die Rhythmik, Konzepte der Musik- und Bewegungs-erziehung, die Bemühungen um den Tanz als Inhalt des Musikunterrichts (z.B.Große-Jäger,1988, Tomanke,1988) oder das Buch "Elementare Musik-pädagogik" von Juliane Ribke (1995), das auf den sensomotorischen Gegebenheiten aufbaut.

Aber auch vielen Werken der klassischen Konzertmusik kann man bei aller Spiritualität eine elementare Körperlichkeit nicht absprechen. Ihre Gestalthaftigkeit, ihre Darstellungen bzw. Programme und ihre Ausdruckskraft können körperlich mit- oder nachvollzogen werden. Dazu gibt es die Konzepte "Musik zum Bewegen" (Bergmann,1988) und "Musik zum Mitspielen" (Neuhäuser u.a.1982). Hierher gehören auch die meditativen Tänze, die Bernhard und Gabriele Wosien  erstmals entwickelt haben. Zu einem langsamen Satz (z.B. Air aus der Suite Nr.3 von J.S.Bach) wird eine einfache Schrittfolge wiederholt. Die Aufmerksamkeit löst sich immer mehr von den sich verselbständigenden Schritten und der Körper kann sich ganz auf die Musik einlassen.

Bei all diesen Beispielen geht es darum, sich in Übung und Spiel dem Ausdruck, der Darstellung oder der Gestalt der Musik zunächst zu nähern. Diese Annäherung besteht in der Suche nach Bezügen zwischen den Bewegungen der Musik und den eigenen Bewegungs- und Darstellungsmöglichkeiten, in Versuchen, mit Händen und Füßen, Mimik, Gestik, Bewegungen im Raum und Stimmartikulationen die musikalische Gestalt nachzuzeichnen, zu spiegeln, zu begreifen um sie sich schließlich anzueignen, einzuverleiben, d.h., sich der Musik anzupassen. Die Motivation und Belohnung für diese Anpassungsleistung ist das ästhetische Vergnügen. Dieses kommt zur Befriedigung, zum Spaß, den jegliche sensorische Integration nach der Aussage von Ayres mit sich bringt, hinzu und besteht in der Übereinstimmung mit dem ästhetischen, 'schönen' Gegenstand Musik, in der 'Harmonie' zwischen der eigenen und der musikalischen Bewegung, in der Aneignung durch Be-Greifen, ob es sich um elementare Rhythmen oder komplexe Musik handelt. Ästhetisches Vergnügen, Spaß an Musik stellen sich ein, wenn die innere, subjektive musikalische Welt mit der äußeren, objektiven übereinstimmt. Dieses Vergnügen, in dem der eigentliche Sinn musikalischen Lernens liegt, verdankt sich nicht nur der "Ich-Stärkung durch Sensibilisierung der Wahrnehmung" (v.Hentig), sondern ebenso dem Begreifen und Verstehen der Musik. Es ist das Ergebnis der "doppelseitigen Erschließung" des Menschen und der Welt (Klafki), es ist die Frucht eines Unterrichts, der - mit den Worten Hartmut von Hentigs "die Menschen stärken, die Sachen klären" will. (1985)

Auf zwei Merkmale musikalischen Lernens im sensomotorischen Zusammenhang muß noch besonders hingewiesen werden: die Wiederholung und die Prinzipien Stimulierung und Strukturierung.

Wiederholung ist das wesentlichste formbildende Element der Musik, nicht nur als "wörtliche" Wiederholung, sondern auch als Variante, Reihe, Sequenz, in Taktschema, Periodenbildung usw.. Die Wiederholung hält die Bewegung in Gang und sorgt für die zum Verstehen nötige Redundanz. Das wieder-Holen gewährleistet Orientierung und Sicherheit, fordert Aufmerksamkeit und ist ein maßgeblicher Garant für die Lust an der Musik. Lernen als Verknüpfung der sensomotorischen Systeme, als Bahnung der Synapsen, ist ohne Wiederholung nicht möglich. Lurija beschreibt, wie im Nervensystem nur durch beständiges Wiederholen aus "isolierten Impulsen...kinetische Melodien" (S.177) entstehen können. Dabei kommt es einerseits auf die Häufigkeit,  andererseits auf die Qualität der Wiederholung an. Die Triebkraft der musikalischen Bewegung provoziert die häufige Wiederholung und verhindert Ermüdung, die musikalische Spannung vor allem von Metrum, Takt und Rhythmus intensiviert die Bewegung und verhindert Leerlauf, die musikalische Variantenbildung belebt auch die Bewegung. Wiederholung aber braucht vor allem Zeit. Die sensomotorisch-rhythmischen Fähigkeiten von Kindern sind zunächst ebenso gering wie ihre Fähigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen. Während sich die letztgenannten Techniken jedoch durch zahllose Wiederholungen über Jahre entfalten können, wird das Rhythmuslernen häufig bereits nach wenigen "Fehlschritten" als aussichtslos abgebrochen und der Entwicklung der sensomotorischen Fähigkeiten kaum Zeit gelassen.

Ein weiteres musikalisches Merkmal ist die Spannung bzw. Balance zwischen Stimulierung und Strukturierung. Musik provoziert einerseits innere und äußere Bewegung, setzt Emotionen und Assoziationen frei und vermittelt andererseits Regelhaftigkeit, Ordnung, Struktur. Die Spannung oder Balance zwischen Entgrenzung und Grenzsetzung, Emotionalität und Rationalität, die als Wohlgefühl oder Ergriffensein, als Verinnerlichung oder Entäußerung erlebt wird, stellt sich in der Regel nicht von selbst ein, sondern nur, wenn Musik angemessen realisiert wird. Dazu bedarf es eines Künstlers und Animateurs, der diese Spannung bzw. Balance 'verkörpert' und über sein Medium Körper weitergibt und es bedarf eines Pädagogen, der diese Spannung im Blick auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler kalkulieren und dosieren kann. Es kommt weniger darauf an, daß Musik gemacht wird, sondern vor allem wie und die Rolle des Lehrers dabei kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Sensomotorik, die Einheit von Bewegung und Wahrnehmung, bezeichnet gleichermaßen einen Inhalt, eine Methode und ein Ziel musikalischen Lernens. Wesentliches Kennzeichen des Inhalts Musik ist seine 'Leibhaftigkeit', sein sensomotorischer Bezug. Die Methode, der Weg musikalischen Lernens, besteht aus den Stufen der sensomotorischen Erfahrung ('Weg' ist der Kern des Wortes Bewegung) und der Weg ist - wie das Zen-Wort sagt - zugleich das Ziel. Der "sensomotorische Weg" zur Musik und der "musikalische Weg" zur Einheit von Wahrnehmung und Bewegung sind wie Kehrseiten einer Münze, die das doppelseitige Ziel von Musikpädagogik abbilden: die Erschließung der Musik und die Erschließung des Menschen. Das eingangs angesprochene Ziel der "Introduktion in Musikkultur" muß für die überwältigende Mehrheit der Schülerinnen und Schüler illusorisch bleiben, solange es einseitig an der Objektseite, der Musik und noch dazu an einem bestimmten musikalischen Genre orientiert ist. Dies kann sich erst ändern, wenn nicht zuerst nach der musikalischen Kultur, sondern nach den Möglichkeiten der subjektiven Lebenskultivierung durch Musik gefragt wird. Die "Kultur" wird dabei keineswegs auf der Strecke bleiben, weil sie nur in der lebendigen Beziehung zum Subjekt ihre Wirkung entfalten kann.

 

Literatur:

 

Amrhein, F.: Bewegungs-, Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kommunikations-förderung mit Musik. In: Zeitschrift. Heilpäd. 9/1993 

Ders.: Sprachförderung im Musikunterricht. In: Schütz,V.(Hrsg.): Musikunterricht heute. Oldershausen 1996

Ders.: Förderung durch Musik. In: Musik und Bildung 2/96 

Ayres, J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin 1984 

Behne, K. E.: Hörertypologien.  Regensburg 1986

Bergmann, A./ Reusch, A.: Musik zum Bewegen. Frankfurt 1988

Blaukopf, K.: Neue musikalische Verhaltensweisen der Jugend. Mainz 1974

Feldenkrais, M.: Bewußtheit durch Bewegung. Frankfurt 1978 

Ders.: Der Weg zum reifen Selbst. Paderborn 1994 

Flatischler, R.: Der Weg zum Rhythmus. Essen 1990 

Große-Jäger, H.: Tanzen in der Grundschule. Boppart 1988 

v. Hentig, H.: Systemzwang und Selbstbestimmung. Stuttgart 1970 

Ders.: Die Menschen stärken, die Sachen klären. Stuttgart 1985

Klafki, W.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 1991

Lurija, A.: Einführung in die Neuropsychologie. Reinbek 1992

Müller, R.: Rock-und Poptanz mit Kindern und Jugendlichen. Regensburg 1992

Neuhäuser, B.u.a.: Musik zum Mitmachen. Frankfurt 1982ff

Piaget, J.: Psychologie der Intelligenz. Olten 1974

Ribke, J.: Elementare Musikpädagogik - Persönlichkeitsbildung als musikerzieherisches Konzept. Regensburg 1995

Schütz, V.: Musik in Schwarzafrika. Oldershausen 1992

Ders.: Chancen und Grenzen der schulischen Auseinandersetzung mit traditionellen Musikkulturen aus Schwarzafrika. In: Schütz, V.(Hrsg.): Musikunterricht heute. Oldershausen 1996

Thompson, R. F.: Das Gehirn. Heidelberg 1990 

Tomanke, P.: Unser Liederbuch 2 - Tanzen. Stuttgart 1988

Tomatis, A.: Der Klang des Lebens. Reinbek 1987

v. Weizsäcker,V.: Der Gestaltkreis. Leibzig 1940

Wieser, W.: Über die Einheit von Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt. In: Wichmann, H. (Hrsg.): Der Mensch ohne Hand. München 1979

Wosien, G.: Sakraler Tanz. München 1988

Wosien, B.: Der Weg des Tänzers - Selbsterfahrung durch Bewegung. Linz 1988.

 

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