Aus: Schütz, V./Börs, P.(Hg.):
Musikunterricht heute 3 Lugert Verlag Oldershausen 1999
S. 28 - 37
Franz Amrhein
Musikunterricht mit „Problemschülern“[1]
In dem Beitrag „Sensomotorisches und
musikalisches Lernen“ hatte ich Belege für die These vorgelegt, daß die Basis
sowohl für die erklingende Musik als auch für musikalisches Erleben, Handeln
und Lernen in der körperlichen Bewegung, - genauer im Zusammenspiel von Wahrnehmung
und Bewegung, im sensomotorischen Zusammenhang - liegt und gefordert, daß dies
im Musikunterricht deutlicher berücksichtigt werden müsse (Amrhein 1997). In
Anknüpfung an die dort gebrachten Argumente möchte ich nun zeigen, daß diese
Forderung vor allem dann gilt, wenn musikalisches Lernen – das Gewinnen von neuen
musikalischen Verhaltensweisen, Einstellungen und Kenntnissen – mit
Schwierigkeiten verbunden ist.
Lösungen für ein Problem findet man in
der Regel weniger bei den speziellen, als vielmehr bei den allgemeinen
Aspekten, bei dem Grundlegenden, Elementaren des jeweiligen Problems. Für
musikalisches Lernen - das Problem, um das es hier geht - besteht das Spezielle
in den ästhetischen, historischen, soziokulturellen usw. Gegebenheiten der
Musik, das Allgemeine, Grundlegende, Elementare im sensomotorischen
Zusammenhang und in den Bewegungs- und Wahrnehmungserfahrungen, die den
Schülern[2]
vermittelt werden. Den Bezug zwischen Musik und Musikunterricht einerseits und
den Problemschülern andererseits sehe ich darin, daß der sensomotorische
Zusammenhang die Basis nicht nur für Musik sondern für jegliches Lebens bildet,
daß menschliche Probleme zu einem guten Teil auf der Störung dieses Zusammenhangs
beruhen und daß dieser Zusammenhang durch musikalisches Handeln in besonderer
Weise hergestellt bzw. aktualuisiert werden kann.[3]
Zwei Fragen, die sich gegenseitig
bedingen, bilden den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen: wie können
Schüler, die dem Musikunterricht (u.U. jedem Unterricht) zunächst nicht aufgeschlossen
gegenüberstehen, zu musikalischer Tätigkeit motiviert werden und wie kann der Musikunterricht
ihren Schwierigkeiten und Problemen, oder - positiv gesagt - ihren Bedürfnissen
und Fähigkeiten gerecht werden. Die dahinter stehende didaktische Grundfrage
lautet: wie kann der Unterricht mit seinen Lern-Anforderungen (Zielen, Inhalten
und Methoden) den Lern-Voraussetzungen der Schüler (ihren Bedürfnissen und
Fähigkeiten) entsprechen. Im Folgenden wird der sensomotorische Zusammenhang
als wichtigste Verbindung zwischen den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Schüler
einerseits und den Zielen, Inhalten und Methoden des Musikunterrichts andererseits
dargestellt. Dabei darf nicht verschwiegen werden, daß die Verbindung von Musik
und Bewegung - unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen und in der
gegenwärtigen Schule - für Schüler und Lehrer häufig mit Hemmungen und Ängsten
besetzt, also selbst hochproblematisch sein kann.
Das aus dem Griechischen/Lateinischen
stammende Wort Problem bedeutet das
Hingeworfene, Vorliegende, Aufgegebene, die Aufgabe. In diesem Sinn ist jeder
Schüler ein Problem. In der Regel verstehen wir aber unter einem Problem eine
schwer zu lösende Aufgabe, eine Schwierigkeit, eine Störung, was nicht für alle
Schüler zutrifft. Ein Schüler ist
einer, der zur Schule geht. Das Wort Schule (griechisch schole) bedeutet
ursprünglich freie Zeit, Muße. Schule sollte demnach ein Ort der Muße, der
frei(willig)en Beschäftigung sein und ein Schüler einer, der selbstbestimmt und
mit Muße, (die auch etwas mit Lust zu tun hat), lernt. Lernen, - das Gewinnen
von neuen Verhaltensweisen, Einstellungen und Kenntnissen - muß als ein doppelseitiger
Prozeß verstanden werden, in dem der Schüler einerseits die Welt andererseits
seine Bedürfnisse und Fähigkeiten erfährt, kennenlernt, sich aneignet. (Klafki
1991, S.96) Im Musikunterricht umfaßt dieser Aneignungsprozeß einerseits die
Musik (die „objektive musikalische Realität“) andererseits die musikalischen
Bedürfnisse und Fähigkeiten (die „subjektive musikalische Realität“). Beide Seiten
gehören zusammen wie die Kehrseiten einer Münze.
Der Schüler wird nun für den
Musikunterricht zum Problem, wenn er die vom Lehrplan vorgesehenen und vom
Lehrer geplanten Lernprozesse behindert oder blockiert, wenn er nicht mitmacht
beim Singen, Spielen, Tanzen, sich nicht an Regeln hält, unaufmerksam, uninteressiert
ist, den Unterricht stört. Will man dies nicht einfach seiner Unfähigkeit oder
Unwilligkeit zuschreiben, so kann man die Ursachen auf drei Ebenen suchen:
a.
Das Problem liegt beim Schüler und seiner Lebenswelt: die Schwierigkeiten, Konflikte,
Probleme, die er außerhalb der Schule erlebt, bringt er mit in den Unterricht,
wo sie ihn bewußt oder unbewußt beschäftigen und am Lernen hindern.
b. Das Problem liegt in den äußeren
Bedingungen des Unterrichts - z.B. in der zu großen Klasse, der heterogenen
Zusammensetzung, der mangelhaften Ausstattung mit Instrumenten, Medien,
Materialien und Musikräumen, der Unregelmäßigkeit des Unterrichts, seinem
schlechten Prestige an der Schule, der ungünstige Plazierung im Stundenplan
oder auch in der unzureichenden Qualifikation des Lehrers.[m1]
c.
Das Problem liegt in den inneren Bedingungen des Unterrichts. Der Musikunterricht wird für den Schüler
zum Problem, weil er ein Mißverhältnis empfindet zwischen subjektiver und objektiver
musikalischer Realität, zwischen seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten und den Anforderungen
dieses Unterrichts, weil ihn die erwarteten Verhaltensweisen, Einstellungen und
Kenntnisse wenig oder gar nicht ansprechen. Dies kann mehr an den Inhalten und
den dahinter stehenden Zielen oder auch am Lehrer und seinen Methoden liegen.[4]
Jede dieser drei Problemebenen, erst
recht ihr Zusammentreffen stellt eine Störung dar, die das Lernen der
jeweiligen Sache behindert und sich auch auf die Befindlichkeit des Einzelnen
und der Gruppe auswirkt. Ein pädagogisches Konzept, das versucht, den
Ansprüchen der Sache, des Individuums und der Gemeinschaft gleichermaßen
gerecht zu werden ist „TZI“, die „Themenzentrierte Interaktion“. (Cohn 1989,
Venus 1984, Pütz 1998) Ein Postulat dieses Konzepts lautet: „Störungen haben Vorrang.“ (Cohn 1989, S.42) Das bedeutet,
solange das den Lernprozeß störende Problem nicht thematisiert, verarbeitet
oder wenigstens angesprochen wird, besteht es als Störpotential weiter und
weder die Sache noch der Einzelne oder die Gruppe kommen zu ihrem Recht. Was
bedeutet nun dieses Postulat für die o.g. drei Problem-, bzw. Störungsebenen?
Die zunehmenden Probleme in der
Lebenswelt der Schüler (a.), die sich in der Schule vor allem in Aggression,
Apathie, Desinteresse und Unaufmerksamkeit äußern, betreffen den Musikunterricht,
der Schüler eigentlich sensibilisieren will, in besonderer Weise. Will man
diesen Störungen Vorrang geben, so darf man einerseits nicht versuchen, sie mit
Musik zu übertönen, sondern muß sie im Gespräch oder Spiel thematisieren, d.h.
sich in der Regel außermusikalisch um Abhilfe bemühen. Für Probleme, die mit
den Rahmenbedingungen des Musikunterrichts (b.) zusammenhängen, besagt dieses
Postulat, daß gewisse Umstände (Räumlichkeiten, Instrumente und Medien, Klassengröße,
Lehrerperson usw.) als Störfaktoren erkannt werden müssen. Wenn sie sich nicht
abstellen lassen, muß man sie notgedrungen als Probleme, die den Unterricht
einschränken, in die Planung einbeziehen. (Ohne Instrumente, ohne Spiel-Raum,
ohne einen auch im Umgang mit Popmusik erfahrenen Lehrer z.B. können Schüler
bestimmte musikalische Erfahrungen nur eingeschränkt machen). Den Störungen,
die die inneren Bedingungen des Unterrichts betreffen (c), Vorrang einzuräumen,
bedeutet, die didaktischen Entscheidungen zu überprüfen, zu fragen, ob sich die
Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts tatsächlich auf die Bedürfnisse und
Fähigkeiten der Schüler beziehen. Die Lebensprobleme der Schüler können ohne
soziale und psychologische Maßnahmen kaum gelöst werden. Die Rahmenbedingungen
des Musikunterrichts müssen u.a. durch bildungspolitische und organisatorische
Entscheidungen verbessert werden. Für die Probleme auf der letztgenannten Ebene
jedoch, die die Ziele, Inhalte und Methoden dieses Unterrichts betreffen, ist
in erster Linie der Musiklehrer verantwortlich.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich
ausschließlich auf die dritte der genannten Problemebenen und wollen dem Lehrer
Hilfe für seine didaktischen Entscheidungen anbieten.
·
Das Ziel ist die Förderung der Bewegungs-,
Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit.
·
Der Inhalt ist nicht einfach die Musik, sondern es
sind vier, Musik näher bestimmende Kategorien: Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung,
Darstellung und Ausdruck.
·
Die Methode wird bestimmt durch die drei Prinzipien
Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung.
Bei jedem der unter den Zielen, Inhalten
und Methoden angeführten Punkten stehen konkrete Fragen, die sich der Lehrer
bei der Planung und Reflexion seines Unterrichts stellen sollte. Die Kriterien
für diese „didaktischen Entscheidungsfelder“ erhalten ihre Legitimation im
Wesentlichen aus der Beziehung zwischen Musik und Bewegung, aus dem
sensomotorischen Zusammenhang. Es ist nicht zu übersehen, daß diesen besonderen
didaktischen Möglichkeiten des Musikunterrichts Hindernisse entgegenstehen, die
von seinen Rahmenbedingungen und der Lebenswelt der Schüler ausgehen. Auf die
didaktische Reflexion zu verzichten hieße jedoch, den Musikunterricht ganz
abzuschreiben und auch Verbesserungen der Rahmenbedingungen werden sich letztlich
nur durch didaktische Argumente herbeiführen lassen. Schließlich kann nur ein
didaktisch reflektierter Unterricht, der von den Bedürfnissen und Fähigkeiten
der Schüler ausgeht, auch ihren Problemen gerecht werden.
Das
Ziel: Förderung der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit
Aus den in jedem Menschen angelegten
Dispositionen, sich zu bewegen, sich und die Umwelt wahrzunehmen, sich auszudrücken
und zu kommunizieren, entwickeln sich unter dem Einfluß der Umwelt die
Bedürfnisse und Fähigkeiten von Bewegung, Wahrnehmung, Ausdruck und
Kommunikation, die als die grundlegenden musikalischen Bedürfnisse und
Fähigkeiten anzusehen sind. Im Folgenden wird der Einfachheit halber nur von Fähigkeiten
die Rede sein, - daß Bedürfnisse die Triebkräfte der Fähigkeiten darstellen,
ist stets zu bedenken. Die Entwicklung dieser vier Fähigkeiten ist das oberste
Ziel des Musikunterrichts. Die Grafik soll die Beziehungen zwischen diesen
Fähigkeiten verdeutlichen.
Basis ist der in der Vertikalen dargestellte
Zusammenhang von Bewegung und Wahrnehmung, den das Wort Sensomotorik bezeichnet.
Bewegung
Senso-Motorik |
||
Ausdruck Bewegung/ Stimme/Instrumente |
Kommunikation Bewegung/Stimme/Instrumente |
|
Wahrnehmung
Senso-Motorik |
·
Bewegung ist jede Veränderung der Lage, Stellung oder Spannung des Körpers oder
seiner Teile, der Körpervorstellung oder des Körpergefühls. Musik kann zu
vielfältigen Bewegungen stimulieren und kann diese durch die Art der Impulse,
des Tempos, der Form usw. zugleich strukturieren. Fragen des Lehrers: wie kann ich die Bewegungsfähigkeit der Schüler ansprechen,
sie zu flüssigeren, koordinierteren, der Musik angemesseneren Bewegungen motivieren?
Wie können Bewegungshemmungen überwunden und Bewegungsfreude gefördert werden?
·
Wahrnehmung, die stets mit Bewegungen und
Bewegungsvorstellungen verbunden ist, ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf
bestimmte Sinneseindrücke zu richten und diese als etwas Bedeutsames zu
erleben. Bedeutsam an musikalischen Sinneseindrücken ist ihre Körperlichkeit,
ihre Gestalt/Ordnung, ihre Darstellung und ihr Ausdruck. Diese Kategorien, die
für musikalisches Lernen und musikalische Förderung entscheidend sind, werden
weiter unten näher erläutert. Fragen des
Lehrers: wie kann ich die Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler fördern, durch den
Einbezug von Bewegungen und Bewegungsvorstellungen ihre Aufmerksamkeit und
Unterscheidungsfähigkeit verbessern?
Ausdrucks- und die Kommunikationfähigkeit sind auf der horizontalen Ebene der Grafik angeordnet. Die enge Verbindung zwischen Bewegung und Wahrnehmung einerseits und Ausdruck und Kommunikation andererseits wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sehr Ausdruck und Kommunikation von Bewegungen (Körperhaltung, Gestik, Mimik, Stimmmotorik) und vom Körpergefühl, von der Sensomotorik bestimmt werden.
·
Ausdruck ist das Innere (Wahrnehmungen, Gefühle,
Gedanken, Willensakte), das durch die Ausdrucksmedien
Bewegung, Stimme, Instrumente und Materialien äußerlich (hörbar, sichtbar,
fühlbar) in Erscheinung tritt.
·
Kommunikation sind die Akte, in denen mit Hilfe der
genannten Ausdrucksmedien Verbindungen zur Umwelt hergestellt werden. Fragen des Lehrers: wie kann ich die Ausdrucks-
und Kommunikationsfähigkeit der Schüler fördern, sie zu differenziertem Gebrauch
der nonverbalen (analogen) klanglichen und bewegungshaften Ausdrucks- und
Kommunikationsmedien anregen?
Die besonderen Möglichkeiten des
Musikunterrichts zur Förderung des Ausdrucks- und Kommunikationsinstruments Stimme wurden bereits dargestellt
(Amrhein 1996). Instrumente sind
nötig zur musikalischen Produktion. Daß sie auch hervorragende Instrumente zur
Förderung von Bewegung und Wahrnehmung sowie unverzichtbare Ausdrucks- und
Kommunikationsmedien sind, wird in dem von Werner Probst initiierte Modell
„Instrumentalspiel mit Behinderten“ (Probst 1991) deutlich. Eine ähnliche
Funktion wie Musikinstrumente können Materialien aus der Rhythmik (Bälle, Reifen,
Säckchen usw.), Puppen, Masken, Requisiten zum Verkleiden sowie die Medien
Schattenspiel und Schwarzlichttheater einnehmen (s. dazu Bieker 1996).
Im Blick auf die Förderung des Schülers
muß man die vier genannten Fähigkeiten unter drei Aspekten sehen: Sie sind 1. musikalische Fähigkeiten, weil sie von
Musik besonders angesprochen werden und für den Umgang mit Musik unentbehrlich
sind. Sie sind 2. allgemeine Fähigkeiten,
weil sie für jegliches Erleben und Handeln nötig sind. Diese vier „Sinne“ geben
dem Leben Sinn, stellen sowohl die Basis als auch die höchste Entfaltung
menschlichen Vermögens dar, machen uns zu Individuen und ermöglichen
Gemeinsamkeit. Man kann sie aber 3. auch als
behinderte Fähigkeiten bezeichnen,
weil in ihnen - wenn ihre Entwicklung aus inneren oder äußeren Gründen
behindert wird, - nicht nur der Reichtum, sondern auch die Not menschlicher Existenz
deutlich wird. Probleme, Schwierigkeiten, Behinderungen eines Menschen treten
in der Regel in seinem Bewegungs-. Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten
zu Tage. Weil im Umgang mit Musik nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die
Grenzen dieser Fähigkeiten sichtbar werden können, haben sie auch eine diagnostische
Funktion.
Der Aspekt der behinderten Fähigkeiten
und die „Diagnose“[5] sollen den
Blick weniger auf die Grenzen als vielmehr auf die Erweiterungs- und
Differenzierungsmöglichkeiten lenken - seien diese noch so gering. Der Aspekt
der allgemeinen Fähigkeiten soll den Bezug zu ihrem alltäglichen Gebrauch
herstellen und eine vorschnelle Einengung auf bestimmten musikalischen Gebrauch
und gewohnte musikalische Techniken verhindern. Der Aspekt der musikalischen Fähigkeiten
schließlich weist auf die besonderen Fördermöglichkeiten des Musikunterrichts
hin. Diese liegen einmal darin, daß Musik zum lustvollen Gebrauch der
Fähigkeiten stimuliert und Spielraum bietet, in dem die Schüler angstfrei
Erfahrungen im Umgang mit ihren Fähigkeiten machen können. Zum anderen liegen
sie in Merkmalen oder Kategorien, die sowohl der Musik, als auch menschlichem
Erleben und Handeln eigen sind: Musik ist körperlich, leibhaftig (dehnt sich aus im Zeit- und Klangraum) und
das Subjekt produziert und rezipiert sie über den Körper. Musik ist Gestalt
bzw. Ordnung, Darstellung und Ausdruck und das Subjekt kann musikalisch
gestalten/ordnen, musikalisch etwas darstellen und sich musikalisch ausdrücken.
Weil diese Kategorien sowohl für die musikalischen Objekte als auch für das
Subjekt, das sich musikalisch verhält, Gültigkeit besitzen, sind sie exemplarisch[6]
für den Inhalt Musik. An ihnen können sich die genannten Fähigkeiten
orientieren und differenzieren, über sie erhält der Schüler Zugang zur Musik,
kann Musik begreifen, sich aneignen und wird so gefördert.
Der
Inhalt: Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck der Musik
Diese Kategorien des Inhalts Musik sollen
sich im Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsverhalten des
Schülers „widerspiegeln“. Aufgabe des Lehrers ist es, die Aufmerksamkeit des
Schülers auf diese Kategorien zu lenken. Dabei können jeweils eine oder auch
mehrere Kategorien im Vordergrund stehen.
·
Die
Kategorie Körperlichkeit oder
Leibhaftigkeit bedeutet, daß sich beim Umgang mit Musik die Aufmerksamkeit
auf ihre körperliche, motorische Wirkung richtet, daß der Gestalt, der
Darstellung, dem Ausdruck der Musik durch körperliche Gestaltung und Darstellung,
durch körperlichen Ausdruck entsprochen wird, daß Musik im wörtlichen Sinn
be-griffen wird.[7] Fragen des Lehrers: spricht die ausgewählte
Musik die Schüler körperlich an? Sind die Möglichkeiten, die Schüler zur
„Verkörperlichung“ des Liedes, Musikstücks usw. anzuregen, ausgeschöpft?
·
Die
Kategorie Gestalt/Ordnung äußert sich
in der Gestalt/Ordnung des Zeit- und Klangraums. Die Aufmerksamkeit muß
gelenkt werden auf den Umgang mit Tempo, Metrum, Takt und Rhythmus, mit
unterschiedlichen Tonhöhen, Klangfarben und –ebenen, auf die Unterscheidung von kurz-lang, langsam-schnell,
laut-leise, hell-dunkel, von Wiederholung, Veränderung usw. Fragen des Lehrers: welche Anregungen kann
ich Schülern geben, damit die Gestalt/Ordnung der Musik (des Liedes, Verses,
Musikstücks, Videoclips usw.) in ihrem Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks-
und Kommunikationsverhalten eine Rolle spielt? Was kann ich beitragen, daß ihre
Fähigkeiten Gestalt/Ordnung annehmen?
·
Die
Kategorie Darstellung ist im Spiel,
wenn die Aufmerksamkeit bei der musikalischen Darstellung oder Nachahmung, beim
musikalischen „Programm“ ist, wenn Vorstellungen und Assoziationen eine Rolle
spielen, z.B. Tiere, Maschinen, Geschichten, Lieder, Bilder musikalisch
dargestellt werden, wenn die Schüler auf „Phantasiereisen“ gehen usw. Fragen des Lehrers: wie kann ich die
Wahrnehmung der Schüler für musikalische Darstellung schärfen und sie motivieren,
in ihren Bewegungen, ihrem Ausdruck und ihrer Kommunikation etwas darzustellen?
·
Die
Kategorie Ausdruck ist maßgebend,
wenn sich die Aufmerksamkeit auf die der Musik eigenen und von ihr ausgelösten
Stimmungen und Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.) richtet. Fragen des Lehrers: wie können Schüler
motiviert werden, auf Stimmungen und Gefühle in der Musik zu achten und
Persönliches, Gefühlshaftes in ihrem musikalischen Bewegungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsverhalten zuzulassen?
Die Aufgabe und die Kunst des Lehrers
besteht im Aufspüren und Verdeutlichen, in der Verkörperlichung dieser Kategorien,
in der Entscheidung, welche der Kategorien für die jeweilige Musik, die
jeweiligen Schüler, die jeweilige Situation am ergiebigsten ist. Er muß aber
auch umdisponieren können, wenn Aufmerksamkeit und Bedürfnisse der Schüler sich
nicht auf die von ihm gewählte Kategorie richten.
Die
Methode: die Prinzipien Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung
Die o.g. inhaltlichen Kategorien sind eng
mit der Methode verbunden, d.h. es kommt weniger darauf an, daß Musik gemacht
und gehört wird, daß man sich bewegt, sondern vielmehr darauf, wie dies
geschieht. Das „Wie“ wird durch die drei folgenden Prinzipien wesentlich bestimmt.
·
Bewegung ist nicht nur eine menschliche Fähigkeit
und eine Eigenschaft der Musik, sondern auch wesentlichstes methodisches
Prinzip, das besagt, daß die Schüler immer wieder auf die sensomotorische Ebene
gelockt, in Bewegungszusammenhänge involviert werden müssen. Methode bedeutet
Weg und das Wort Weg bildet den Kern des Wortes Bewegung. Der Weg aber ist
zugleich das Ziel. Nur wer sich auf den Weg macht, in Bewegung bleibt, kommt weiter,
wird gefördert. Dazu gehört auch die innere Bewegung und die Erfahrung der
Stille als Innehalten der äußeren Bewegung und Möglichkeit ihrer
Strukturierung. Fragen des Lehrers:
Welche Möglichkeiten bieten sich, das jeweilige Unterrichtsthema (z.B. Lied,
Musikstück, musikalische Formen oder Begriffe, theoretische Zusammenhänge) auf
der sensomotorischen Ebene zu vermitteln? Welche von diesen Möglichkeiten
kommen den Schülern besonders entgegen? Bildet die sensomotorische
Erfahrungsebene[8] wirklich die
Basis meines Unterrichts?
·
Wiederholung ist das wesentlichste formbildende Moment
der Musik. Das Wieder-Holen hält die Bewegung in Gang, fordert Aufmerksamkeit,
bringt Orientierung und Sicherheit. Lernen bedeutet, daß zwischen den Neuronen
dauerhafte Verbindungen hergestellt werden, was ohne beharrliche Wiederholungen
kaum möglich ist. Das Besondere musikalischer Wiederholung sind die stimulierende
und strukturierende Wirkung von Metrum, Takt und Rhythmus sowie die klanglichen,
dynamischen und tempomäßigen Variationsmöglichkeiten. Musikalische Wiederholung
ist nie dasselbe, sondern stets auch Neues und wird in der Regel lustvoll
erlebt. Fragen des Lehrers: Gebe ich den
Schülern genügend Zeit für Wiederholungen, können sie in die „musikalische
Zeit“, (Groove, Swing) kommen und lange genug darin bleiben? Werden die
Möglichkeiten der klanglichen, dynamischen und tempomäßigen Variation und Differenzierung
beim Wiederholen ausgeschöpft?
·
Das Prinzip
Stimulierung-Strukturierung bedeutet,
daß Musik einerseits innere und äußere Bewegung provozieren, Assoziationen und
Emotionen freisetzen und andererseits Ordnung, Regelhaftigkeit, Struktur
vermitteln kann. Die Spannung bzw. Balance zwischen Entgrenzung und
Grenzsetzung, Emotionalität und Rationalität, das Eigentliche musikalischen Erlebens,
stellt sich jedoch in der Regel nicht von selbst ein, sondern entsteht durch
die Animation einerseits und die Sicherheit andererseits, die der Lehrer
ausstrahlen sollte. Eine weitere Aufgabe des Lehrers ist es, diese Spannung
bzw. Balance im Blick auf die Situation
sowie auf die Fähigkeiten der Schüler zu kalkulieren und zu dosieren. Fragen des Lehrers: Mache ich mir klar,
welches die stimulierenden und welches die strukturierenden Elemente des jeweiligen
Unterrichtsthemas sind? Gelingt es, die Schüler zu animieren, sie in die musikalische
Spannung zu involvieren und ihnen gleichzeitig etwas von der musikalischen
Struktur zu vermitteln?[9]
Die Bestimmung von Ziel, Inhalt und
Methode des Musikunterrichts, die hier versucht wurde, kann nicht annähernd die
Komplexität der Ziel-, Inhalts- und Methodenproblematik des Musikunterrichts
erfassen, wie sie z.B. von Kaiser/Nolte (1989, S. 86-156) dargestellt wird. Sie
will vielmehr darauf aufmerksam machen, daß Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts,
die Lernanforderungen an den Schüler,
untrennbar mit seinen Lernvoraussetzungen,
seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zusammenhängen. Nur wenn der
Musikunterricht diesen Zusammenhang berücksichtigt, könnte er zur Lösung seiner
eigenen Probleme beitragen und dem Schüler nicht nur Wege zur Musik, sondern -
durch die Herstellung der sensomotorischen Balance - auch einen Weg zu sich
selbst eröffnen.
Anmerkungen:
[1]
Diese
Ausführungen beinhalten die Grundzüge eines musikalischen Förderkonzepts, das zunächst
für Schüler der Sonderschule entwickelt wurde (Amrhein 1983, 1993) und den hessischen
Lehrplänen für die Schule für Lernbehinderte (1979) bzw. für Lernhilfe (1996)
zugrunde liegt. Als besondere Aspekte dieses Konzeptes wurden die
Sprachförderung und das sensomotorische Lernen bereits dargestellt (Amrhein
1996/97). Hier wird dieses Konzept, das nicht nur für die Sonderschule relevant
scheint, unter dem Blickwinkel des „Problemschülers“ ergänzt und differenziert.
Ich bitte den Leser um Nachsicht, wenn er einige Argumente bereits aus meinen
früheren Veröffentlichungen kennt.
[2] Für die durchgängig
gebrauchte männliche Form möchte ich mich bei den Leserinnen entschuldigen. Ich
gebrauche sie der besseren Lesbarkeit wegen.
[3]
In dem Abschnitt „Das
Schlüsselproblem Sensomotorik“ in Amrhein 1997 werden die Probleme der Schüler
und die Musik als Lösungsmöglichkeit genauer beschrieben. Die Bedeutung des
sensomotorischen Zusammenhangs für allgemeines und für musikalisches Lernen
liegt vor allem in folgenden Punkten:
·
Die
Fähigkeit, Wahrnehmungen und Bewegungen zu integrieren, die „sensumotorische Intelligenz“
(Piaget) ist die Grundlage für die Entwicklung der kognitiven, emotionalen und
sozialen Bedürfnisse und Fähigkeiten und wird bei kaum einer Tätigkeit so
gefordert und gefördert wie bei musikalischer Tätigkeit.
·
Der
sensomotorische Zusammenhang stellt ein menschliches „Schlüsselproblem“ dar:
wenn es nicht gelingt, auf die Wahrnehmungen angemessen zu reagieren, wenn dem
„Übermaß an Reizangeboten ohne motorische Konsequenz ein Übermaß an motorischer
Aktivität ohne sensorische Relevanz“ gegenübersteht (Wieser 1979, S.54),
entstehen Probleme (z.B. Frustration, Aggression, Apathie). Dagegen empfinden
wir Befriedigung und Spaß, wenn wir die Wahrnehmungen auch mit angemessenen
Reaktionen beantworten können, wenn die „sensorische Integration“ gelingt
(Ayres 1984, Feldenkrais 1978).
· Die
Verbindung zwischen auditiver Wahrnehmung und Bewegung (die Tatsache, daß nur
Bewegung Musik hervorbringen kann und umgekehrt Musik Bewegung provoziert) hat
ihr „neuronales Korrelat“ in den Verknüpfungen zwischen den afferenten und
efferenten Nerven, den Beziehungen zwischen den sensorischen und motorischen
Rindenfeldern sowie den Verbindungen zwischen Gehör- und Bewegungssinn (Cochlea
und Vestibularsystem) im Innenohr.
[4] In Befragungen zum
Musikunterricht (Amrhein 1983, Wijnmaalen 1991, Brünger/Bleyl 1997) geben die Lehrer als Ursachen für Probleme
im Musikunterricht die unter den drei Ebenen genannten Schwierigkeiten an.
[5] Unter Diagnostik ist
eine „Förderdiagnostik“ zu verstehen, der es weniger um die Feststellung von
Defiziten, als um das Ausloten der Entwicklungsmöglichkeiten geht. (S.dazu
Eggert 1997) In musikalischen Bewegungsspielen z.B. können nicht nur die
Behinderung, sondern gleichzeitig auch Verbesserungs-, Fördermöglichkeiten
erkannt („diagnostiziert“) werden.
[6]„Lernen,
das die Selbständigkeit des Lernenden fördert,...wird nicht durch die Übernahme
vieler Einzelkenntnisse und –fähigkeiten gewonnen, sondern dadurch, daß sich
der Lernende an einer begrenzten Zahl von Beispielen (Exempeln)...verallgemeinerbare
Kenntnisse und Fähigkeiten erarbeitet, m.a.W.: Wesentliches, Strukturelles,
Prinzipielles...Man kann diese... Erkenntnisse und Fähigkeiten....„kategorial“
nennen. ...Kategoriale Bildung meint das Sichtbarwerden von allgemeinen,
kategorial erhellenden Inhalten auf der objektiven Seite und das Aufgehen allgemeiner
Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen auf der Seite des Subjekts.“ (Klafki 1991,
S.143f.)
[7]
Wenn Musik auch kein Körper im Sinn eines faßbaren Gegenstands ist, so eignet
ihr doch in einem übertragenen Sinn Körperlichkeit: Wir erleben ihre
Gestalthaftigkeit, ihre Proportionen und Strukturen als Entfaltung im Zeit- und
Klangraum, bezeichnen die musizierenden Stimmen und Instrumente als
Klangkörper, sind bei "Bodymusic" selbst ein solcher Klangkörper. Wenn
"Musik in die Füße geht", wird sie auch körperlich wahrgenommen. S.
auch den Abschnitt "Leibhaftige Musik" in Amrhein 1997
[8] Die sensomotorische
Erfahrungsebene könnte man vergleichen mit der „enaktiven Repräsentationsweise“
von J.S. Bruner, auf der dann die „ikonische“ und die „symbolische Repräsentationsweise“
aufbauen kann. (Bruner 1974, S. 48ff)
[9]
Stimulierende und zugleich strukturierende Elemente eines Liedes können z.B.
der gefällige Inhalt, der witzige Text, die ansprechende Melodie, der zündende
Refrain, ein Begleitrhythmus, eine dynamische Besonderheit (z.B. plötzliches
piano), eine Bewegungsgestaltung, eine Pause usw. sein. Ob das jeweilige
Element mehr stimulierend oder mehr strukturierend wirkt, hängt wesentlich von
der Präsentation durch den Lehrer ab.
Literatur:
Amrhein, F.: Die musikalische Realität
des Sonderschülers. Situation und Perspektiven des Musikunterrichts an der
Schule für Lernbehinderte. Regensburg 1983
Ders.: Bewegungs-, Ausdrucks-,
Wahrnehmungs- und Kommunikationsförderung mit Musik. In: Zeitschrift für
Heilpädagogik 9/93, S. 570-589
Ders.: Sprachförderung im
Musikunterricht. In: Schütz,V.(Hg.): Musikunterricht heute. Oldershausen 1996
Ders.: Sensomotorisches und musikalisches
Lernen. In Schütz, V./Bähr, J. (Hg.): Musikunterricht heute 2. Oldershausen 1997
Ayres, J.: Bausteine der kindlichen
Entwicklung. Berlin, Heidelberg 1984.
Bieker, M.: Schattenspiel und Musik –
Ästhetische Praxis mit „schwierigen Schülern“. In: Schütz, V.: (Hg.):
Musikunterricht heute. Oldershausen 1996
Bruner, J.S.: Entwurf einer
Unterrichtstheorie. Berlin/Düsseldorf 1974
Brünger, P./Bleyl, F.: Befragung von
ehemaligen Studierenden des Lehrgebiets Musik und ihre Didaktik der Hochschule
für Musik und Theater Hannover zum Musikunterricht 1997 unveröffentlichtes
Manuskript
Cohn, R.: Es geht ums Anteilnehmen.
Freiburg i.Br. 1989
Eggert, D.: Von den Stärken
ausgehen....Individuelle Entwicklungspläne (IEP) in der Lernförderungsdiagnostik.
Dortmund 1997
Feldenkrais, M.: Bewußtheit durch
Bewegung. Frankfurt 1978
Hess. Kultusminister (Hg.):
Rahmenlehrplan Musik für die Schule für Lernbehinderte. Wiesbaden 1979
Ders.: Rahmenplan Ästhetische Bildung:
MUSIK - Schule für Lernhilfe. Frankfurt, Diesterweg 1996.
Kaiser, H.J./Nolte, E.: Musikdidaktik.
Mainz 1989
Klafki, W.: Neue Studien zur
Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 1991
Probst, W.: Instrumentalspiel mit
Behinderten - ein Modellversuch und seine Folgen. Mainz 1991
Pütz, W.: „Als wär’s ein Stück von mir“ –
Themenzentrierte Interaktion in der Ausbildung von Musiklehrern. In: Pfeffer,
M. u.a. (Hg.): Die Lust am musikpädagogisch geleiteten Nachdenken. Augsburg
1998
Venus, D.: Zur Balance von personalen,
sozialen und themenbezogenen Aspekten im Musikunterricht. In: Ritzel, F./Stroh,
W.M. (Hg.): Musikpädagogische Konzepte und Schulalltag. Wilhelmshaven 1984
Wijnmaalen, R.: Situation des
Musikunterrichts an Sonderschulen. In: vds (Hg.): Dokumentation:
Forschungsprojekt „Musik an Sonderschulen“. Hannover 1991
Wieser, W.: Über die Einheit von
Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt. In: Wiechmann, H. (Hg.): Der
Mensch ohne Hand. München 1979