In: Diskussion Musikpädagogik 8/2000 - wissenschaftliche Vierteljahresschrift
für Musikpädagogik herausgegeben vom Lugert Verlag in Verbindung mit Prof. Dr.
Christoph Richter. Velber S.12 – 25.
(Thematik eines Arbeitskreises der vom vds veranstalteten Tagung der Fachleiterinnen
und –leiter für Musik zum Thema „Gibt es einen aufbauenden Unterricht im Fach
Musik?“ im November 1999 in Weimar)
Franz Amrhein
Bei der Suche nach Kriterien für einen
"aufbauenden Musikunterricht" muß man bedenken, dass ein Aufbau eine
Basis, ein Fundament braucht und
dass, wer aufbaut, ein Ergebnis erwartet. Man muß weiter bedenken,
dass nicht nur die Musik, sondern auch der Schüler[1]
„aufgebaut“ werden soll und dass es sich beim Aufbau um einen Prozess handelt, der nur mit geeigneten Methoden gelingen kann. Die vorliegenden
Überlegungen beziehen sich vor allem auf das Fundament des musikalischen
Lernens und seines Aufbaus, wollen jedoch auch die übrigen genannten Aspekte
berücksichtigen. Die Argumentation geht von folgenden Annahmen aus:
·
Das Lernen
in der Schule wird bestimmt von den Lernvoraussetzungen,
den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Schüler auf der einen Seite und von
den Lernanforderungen, den Zielen,
Inhalten und Methoden des Unterrichts auf der anderen Seite.
·
Unterricht
kann nur dann erfolgreich sein, wenn sich die Lernanforderungen auf die Lernvoraussetzungen
der Schüler beziehen.
·
Wenn die
Voraussetzungen für musikalisches Lernen
im Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung, in den sensomotorischen
Fähigkeiten und Bedürfnissen liegen, so muß - um die Beziehung zwischen
Anforderungen und Voraussetzungen herzustellen - die sensomotorische Dimension
auch die Basis für die Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts sein.
In den Abschnitten 1. Subjektive und objektive musikalische Realität und 2. Sensomotorik geht es um die
Sensomotorik als Voraussetzung musikalischen Lernens. In den Abschnitten 3. Das Ziel des Musikunterrichts: Förderung
der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit. sowie 4. Die inhaltlichen Kategorien: Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung
und Ausdruck und 5. Die methodischen
Prinzipien: Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung wird die Sensomotorik als Basis der
Anforderungen musikalischen Lernens dargestellt und es werden Kriterien,
Kategorien und Prinzipien für diese Anforderungen genannt.
1.
Subjektive und objektive musikalische Realität
Lernen, das Gewinnen von neuen
Verhaltensweisen, Einstellungen und Kenntnissen, ist stets ein doppelseitiger
Prozeß, der sowohl das Subjekt, seine Bedürfnisse und Fähigkeiten als auch die
Objektwelt, die materiellen oder spirituellen Inhalte oder Gegenstände
betrifft. Klafki bezeichnet diesen Prozeß der "wechselseitigen
Erschließung von Subjekt und Wirklichkeit"[2]
als kategoriale Bildung, weil es nicht um die Anhäufung von Wissen geht,
sondern darum, zwischen den äußeren (objektiven) und inneren (subjektiven)
Kategorien Beziehungen herzustellen. Bruner spricht von den Strukturen und
Niveaus der Objekte, die sich auf die Strukturen und Niveaus des Subjekts
beziehen müssen[3] und auch die
Begriffe Akkomodation und Assimilation, mit denen Piaget den Aneignungsprozeß
beschreibt, zielen auf diesen Zusammenhang[4].
Die griffigste Formel für die pädagogische Aufgabe, die sich aus dem
Subjekt-Objekt-Bezug beim Lernen ergibt, findet v. Hentig mit dem Buchtitel
"Die Menschen stärken, die Sachen klären". (1985) Beides, Sachen, objektive Realität und Mensch, subjektive Realität, gehören untrennbar
zusammen.
Engt man diesen Sachverhalt
auf Musik und Musikunterricht ein, so bedeuten objektive musikalische Realität die Musik, die die Schüler täglich
umgibt sowie die Musik, die wir ihnen nahebringen wollen, subjektive musikalische Realität ihre musikalischen
Bedürfnisse und Fähigkeiten. Schüler werden musikalisch nur dann gestärkt, lernen nur dann optimal, wenn
für Sie die Sache Musik geklärt wird,
d. h. durch Aspekte oder Kategorien der Musik, die ihre Bedürfnisse und
Fähigkeiten ansprechen. Jede Trennung in einen einerseits sach-, andererseits
schülerorientierten Unterricht schadet sowohl der Sache als auch dem Schüler -
vor allem wenn die Schülerorientierung sich als Kompensation oder Therapie
versteht[5].
Praxis:
Dieser Sachverhalt wurde
verdeutlicht a) an einem Bewegungsspiel zur Musik Hands up – Give me your heart der Gruppe Ottawan[6]:
Indem die Teilnehmer ihre Bewegungen strukturieren und koordinieren, eignen sie
sich die "Struktur" der Musik an (Strophe-Refrain, 3x4 Takte
usw.); b) am Beispiel der Reprise des
ersten Satzes der Kleinen Nachtmusik[7]:
die Schüler spielen mit Rhythmusinstrumenten und Stabspielen zur Musik Mozarts,
sie differenzieren und koordinieren ihre Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit
und be-greifen die Musik Mozarts als objektive und subjektive musikalische Realität.
Die Verbindung zwischen beiden ist die Bewegung bzw. der Zusammenhang von
Bewegung und Wahrnehmung.
2.
Sensomotorik
Unser Leben spielt sich auf vier Ebenen
ab, die untrennbar verbunden sind: wir nehmen uns und unsere Umwelt wahr, bewegen
uns, fühlen und denken. Der Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung - die
Sensomotorik - ist jedoch sowohl in der phylo- als auch in der ontogenetischen
Entwicklung das Primäre. Im Mutterleib und in den ersten Lebensjahren werden
wir wesentlich von sensomotorischen Erfahrungen geprägt. Piaget (1973)
bezeichnet diese Zeit als sensumotorische
Phase, in der sich die sensumotorische
Intelligenz als Basis menschlichen Vermögens entwickelt. Zwar werden die
Handlungen immer klarer von den Gedanken, Gefühlen, Assoziationen bestimmt, und
die Verantwortung geht vom Sensorium auf das ganze Gehirn über. Die ”höheren”
Tätigkeiten des Gehirns, Fühlen und Denken, sind jedoch stets auf das
Funktionieren der basalen sensomotorischen Fähigkeiten angewiesen. Bruner sagt, daß wir uns die Welt in drei
aufeinander aufbauenden Repräsentationsformen aneignen: erstens durch
Handlungen (enaktive Phase), zweitens durch Bilder (ikonische Phase) und
drittens durch Worte und Sprache (symbolische Phase). Erst wenn ein Sachverhalt
in der „niederen“ Repräsentationsform verstanden ist, kann man zur nächsten
weitergehen. (1974, S. 16 ff.) Die Arbeit von Moshé Feldenkrais (1904-1984)
beruht auf dem Zusammenhang der vier Ebenen menschlicher Existenz, auf der Einsicht,
daß die sensomotorische Ebene für die Initiierung und Beobachtung von
Lernprozessen am zugänglichsten ist und daß sich eine Erweiterung der sensomotorischen
Kompetenz auch positiv auf die emotionale und kognitive Ebene auswirkt. Feldenkrais´
Lehrmethode Bewußtheit durch Bewegung
greift die These Piagets von der sensumotorischen
Intelligenz auf. Beides leuchtet
ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es die Hauptaufgabe des Gehirns ist,
Bewegungen zu erzeugen.[8]
a.
Neurophysiologische Befunde
Was wir hören, sehen, fühlen usw. wird von den
sensorischen (afferenten) Nerven dem Gehirn vermittelt und dort verarbeitet.
Vom Gehirn aus gehen die motorischen (efferenten) Nerven zu den Gelenken,
Sehnen und Muskeln und sorgen für effektive Aktionen und Reaktionen. Da sensorisches
und motorisches System zu einer funktionellen Einheit verschmilzt, hängt die
Qualität der Bewegung nicht nur von der motorischen Fertigkeit, sondern ebenso
von der Sensibilität der Wahrnehmung ab. Umgekehrt wirkt sich Geschicklichkeit
in der Bewegung auch positiv auf die Wahrnehmung aus.
Das Besondere an musikalischer Bewegung und Wahrnehmung ist
ihr Bezug auf den musikalischen Klang- und Zeitraum. Diese Tatsache findet ihre
neuronale Entsprechung im Innenohr und den Verbindungen zwischen den auditiven
und motorischen Nervenzentren. Weitere Argumente werden aus der Tatsache der
Spezialisierung und Zusammenarbeit der beiden Hirnhemisphären gewonnen.
Das Körpergefühl
im Ohr
Im Felsenbein
des Innenohrs, der härtesten Substanz des Körpers, lagern zwei Sinnesorgane eng
verbunden in der selben Flüssigkeit: der Bewegungs- und Gleichgewichtssinn (das
vestibuläre System) und der Gehörsinn (das cochleare System). Tomatis weist
nach, daß das vestibuläre System nicht nur das Gleichgewicht reguliert und die
Bewegungen steuert, sondern auch auf Hörbares reagiert. "Wenn Schallwellen
das Ohr erreichen, wird der gesamte Hör- und Bewegungssinn aktiv und nicht, wie
gemeinhin angenommen, das Gehör allein." (S.63) Dabei sei das Vestibularsystem
mehr für die musikalische Zeit, die Cochlea mehr für den musikalischen Klang
zuständig. Mit der Behauptung, unser Körpergefühl sitze im Ohr will Tomatis
sagen, daß das Ohr nicht nur die Schwingungen der klingenden Welt wahrnimmt,
sondern uns auch ein durch diese Schwingungen bestimmtes Körpergefühl
vermittelt. D. h. das Ohr ist nicht nur ein exterozeptives Organ, das
Informationen von außen aufnimmt, sondern zugleich ein propriozeptives, das
über den inneren Zustand informiert. Die Botschaften aus beiden Sinnesorganen
werden von einem Nervenstrang, dem Nervus vestibulocochlearis an das Gehirn weitergeleitet.
Sensorische und motorische Nervenzentren
Bevor der akustische Reiz die Hirnrinde,
den Sitz des Bewußtseins, erreicht, durchläuft er die tieferen Regionen, die
für Bewegungsempfindung und Emotionen - auch für die Lust, von der noch die
Rede sein wird - verantwortlich sind. Diese Regionen sind vor allem Thalamus,
Hypothalamus, limbisches System und Kleinhirn. Das, was wir hören erreicht also
erst die bewußte Wahrnehmung im Hörzentrum nachdem es mit Bewegungs- und
Gefühlsanteilen "aufgeladen" ist. Das Hörzentrum selbst liegt am
Rande der motorischen und sensorischen Rindenfelder, die Bewegung und
Wahrnehmung verknüpfen. Hörzentrum, sensorische und motorische Felder werden
ihrerseits tangiert vom sensorischen und motorischen Sprachzentrum, den
Arealen, die für das Sprachverständnis und das Sprechen zuständig sind.
Der dargestellte
sensomotorische Zusammenhang bedeutet, daß es eigentlich keine musikalische
Bewegungserziehung geben kann, die nicht auch Wahrnehmungserziehung,
ästhetische Erziehung wäre, aber auch umgekehrt keine ästhetische Erziehung
ohne Bewegung.
Es gibt zwei
musikpädagogische Konzeptionen, die scheinbar an beiden Enden des
sensomotorischen Bezugs stehen: "Handlungsorientierter Unterricht"
betont Tätigkeit, Handlung, Motorik. "Ästhetische Erziehung" hebt
Aisthesis, Wahrnehmung, Sensorik hervor. Beide Konzepte machen jedoch nur Sinn,
wenn auch die jeweils andere Polarität mit ins Spiel kommt, was häufig nicht
bedacht wird.
Zwei Hirnhemisphären
Menschliche
Entwicklung ist auf das Gleichgewicht und den Austausch zwischen beiden Hirnhemisphären
angewiesen. Die Schule jedoch beansprucht einseitig die linke, mehr für sequentielle,
analysierende Prozesse zuständige Seite und vernachlässigt die rechte, die mehr
für ganzheitliche, synthetische Prozesse zuständig ist. Aus den höchst
differenzierten Untersuchungen von Altenmüller und Gruhn (1996) kann man im
Blick auf das vorliegende Problem vereinfacht Folgendes entnehmen: Bei einer
mehr theoretisch-analytischen Beschäftigung mit Musik, zeigt sich Hirnaktivität
auf der linken Seite und wenig Bewegung auf der rechten. Bei praktischer musikalischer
Tätigkeit, bei Bewegung und Spiel wird erwartungsgemäß die rechte Seite aktiv.
Das Überraschende aber ist, daß die Aktivitäten der rechten deutlich auch auf
die linke Seite ausstrahlen. Dies scheint das ”neuronale Korrelat” für die
Tatsache, daß praktische musikalische Tätigkeit und musikalische Bewegung nicht
nur sensomotorische und emotionale, sondern auch strukturierende,
"rationale" Elemente enthalten, die auch ohne ausdrückliche Reflexion
wirksam sein können.
b.
Psychologische Argumente
Die
physiologischen Gegebenheiten bilden die Basis für die Psyche, für das Bedürfnis
nach Bewegung und Wahrnehmung und nach der Balance zwischen beidem. Wenn
Bedürfnisse nicht befriedigt werden, -
wenn wir auf die Reize, die „Sensationen“ aus der Umwelt nicht angemessen
reagieren können, oder unsere Aktionen keine sinnliche, keine sinn-volle Basis
haben - sind wir frustriert. Frustration stellt sich ein, “wenn dem Übermaß des
Reizangebots ohne motorische Konsequenz ein Übermaß an motorischer Aktivität
ohne sensorische Relevanz entspricht." (Wieser, 1979 S. 54) Die Folgen von
Frustration aber sind Aggression, Regression und Apathie, die zu den größten
Problemen unserer Zeit gehören.[9]
Das Gegenteil von Frustration -
Befriedigung, Wohlbefinden, Lust, Spaß - empfinden wir, wenn es gelingt, auf
Sinneseindrücke angemessen zu reagieren. ”Die Möglichkeit, Sinneswahrnehmungen
sinnvoll ordnen zu können, vermittelt uns Befriedigung und die Befriedigung
wird noch größer, wenn Empfindungen auch mit angepaßten Reaktionen beantwortet
werden können.... Ein Kind, das Erfahrungen mit Anforderungen macht, auf die es
sinnvoll reagieren kann, hat Spaß. Spaßhaben ist der Inbegriff für gute
sensorische Integration.” (Ayres, 1984, S.9) Befriedigung, Lust, Spaß verdanken
sich vor allem der Erfahrung der eigenen Sinnlichkeit. Auch wenn gemeinhin der
Sensible als Schwächling gilt, möchte ich Hartmut v. Hentig zustimmen, der
sagt, daß Sensibilisierung zur "Ich-Stärkung” führe (1975) Eine weitere
Ursache für Lust und Spaß ist das Erlebnis der sensomotorischen Balance, der
Spannung zwischen “Sinneswahrnehmung und Bewegungshandlung”, die Viktor v.
Weizsäcker (1940) als “Gestaltkreis” bezeichnet.[10]
Die Lust stellt sich schon beim Bemühen um diese Balance ein und kann beim „Aus
der Balance Fallen und wieder Hineinkommen“ zur Abenteuerlust werden. Ein
weiterer Aspekt ist die "Funktionslust" beim Spiel, wenn die
Aktivität an sich, die Erfahrung der eigenen Vitalität Vergnügen bereitet und
dieses Vergnügen der Antrieb für das Handeln ist. Eine andere Quelle der Lust
ist die Wiederholung: sie dehnt nicht nur den Zeitpunkt der Lust aus, sondern
der Akt des Wieder-Holens selbst wird als lustvoll erlebt. Funktionslust kann
sich erst durch Wiederholung entfalten. Wiederholung bringt Sicherheit, sorgt
dafür, daß man in die Bewegung kommt und darin bleibt. Nur durch Wiederholung
können aus isolierten Bewegungsimpulsen gekonnte Bewegungen, "kinetische
Melodien", wie Alexander Lurija sagt (S.177) entstehen, die uns - weil sie
gelingen - befriedigen.
Die Lust an der Sensomotorik erhält durch die musikalischen Reize eine eigene Dynamik, weil lustvolle Reize die motorischen Kanäle durchlässiger machen und wir wie von selbst reagieren, während unlusterregende Reize die entsprechenden Kanäle schließen.[11] Wie schon bei der Beschreibung des Innenohrs betont, wird Musik aber nicht nur als ein von außen, sondern auch als ein von innen kommender propriozeptiver Reiz erfahren. Die Lust stellt sich ein, wenn äußere und innere Bewegung übereinstimmen.
Eckart Altenmüller spricht vom "selbstbelohnenden Charakter des Musizierens,..vom Flow-Erleben, wenn alles funktioniert und das Instrument beherrscht wird." (S.97) Das Flow-Erleben, das Fließen, das im Stamm "rheîn" des Wortes Rhythmus enthalten ist, das Stimulierende, Entgrenzende, ist jedoch nur eine Seite. Die andere Seite besteht in der Erfahrung von Gliederung, Gestalt, Struktur und Wiederholung. Das Involviertsein in die Spannung zwischen die Pole Stimulierung und Strukturierung ist ein wesentliches Moment der Lust an der Musik.
Wohlbefinden und Lust spiegeln sich in Mimik und Gestik, in unserer Sensomotorik. Lächeln und Lachen regen die Produktion von Endorphinen, körpereigenen Opiaten, an, die uns in einen Zustand des Wohlbefindens versetzen. Feldenkrais sagt, dass Lernen, bei dem man lächelt, größere Früchte trägt.[12] Der Zusammenhang zwischen Lust, Spaß und Musikunterricht wird häufig nicht Ernst genommen, wenn nicht gar in Abrede gestellt. Wer dies tut, kann kein guter Musiklehrer sein, weil er seiner Sache, dem Musiklernen, nicht gerecht wird. Und außerdem: Warum sollten Schüler (denen nicht, wie dem Musiklehrer, Musik zum Broterwerb dient) Musik lernen, außer zum Spaß?
c. Soziologische Argumente
Musik entfaltet sich im Zeit- und
Klangraum. Die abendländische Musik hat die zeitlich-rhythmischen
Gestaltungsmöglichkeiten weitgehend vernachlässigt und ungeahnte klangliche
Differenzierungen hervorgebracht, was wiederum zum Reichtum ihrer Formen
führte. Gleichwohl ist die zeitliche Ebene, die für alles Hörbare, vor allem
auch für die Sprache gilt, die grundlegende. Der Ablauf der Zeit - und der
Musik, die in ihr verrinnt - sind für das Erleben allerdings nicht leicht zu
fassen. Die Lösung für dieses Problem bringt die körperliche Bewegung: Durch
den körperlichen Vollzug kann die abstrakte musikalische Bewegung in der Zeit
als konkrete Bewegung im Raum erfahren werden.
Die Gründe für die Vernachlässigung des Körpers in der mitteleuropäischen Musik liegen vor allem in ihrer einzigartigen klanglichen Entfaltung, ihrer Spiritualität, ihrer Existenz als Schriftkultur und im Einfluß, den die körperfeindliche christliche Religion auf ihre Entwicklung genommen hat. "Eine Betrachtung im Zusammenhang der abendländischen Musik läßt erkennen, daß die Verbindung von körperlichem Ausdruck mit der musikalischen Darbietung keineswegs ungewöhnlich ist, sondern daß umgekehrt die Entkörperlichung der Musik als eine spezifische Leistung der abendländisch-christlichen Kultur angesehen werden muß... Das Streben nach Entkörperlichung der Musik war eine der wesentlichen Vorbedingungen für die Entwicklung der Musik als autonome Kunst. ...Dennoch kann nicht übersehen werden, daß die gesamte europäische Musikgeschichte Zeugnis davon ablegt, daß ein elementares Verlangen nach körperlicher Musik sich immer wieder geltend machte...Die Körperlichkeit von Rock und Pop fügt sich in diese elementare Gegenbewegung ein." (Blaukopf,S.56f) In seinen umfangreichen Untersuchungen zum musikalischen Verhalten Jugendlicher stellt K.-E. Behne fest, dass „ das Hörverhalten der Jugendlichen vor allem körperlich-sinnlich orientiert ist“ und stellt die Frage, „ob der Musikunterricht dieses vitale und verständliche Bedürfnis immer berücksichtigt.“ (Behne 1990, S. 128)
Die ursprüngliche Beziehung
zwischen Musik und Körper in zahlreichen außereuropäischen Kulturen wird vor
allem in den Tänzen, körpernahen Instrumenten und dem Körper, der selbst
Instrument, "Body-Music" ist, deutlich. Die wichtigsten Kennzeichen
dieser Musik, - Dominanz der Zeitfaktoren Puls und Rhythmus, ständige
Wiederholung bestimmter Bausteine (Elemente, Pattern), Prozeßcharakter,
Improvisationsanteile - sind den Prinzipien der abendländische Kunstmusik
entgegengesetzt. Auch die Haltung der Musizierenden und die durch die Musik
vermittelten Erfahrungen entsprechen nicht unseren musikalischen Gewohnheiten.
Zur musikalischen Tätigkeit des Einzelnen auf mehreren Ebenen (Füße, Hände,
Stimme) kommt die Interaktion der Gruppe. Bei aller Vitalität ist stets höchste
Sensibilität für den eigenen Puls und für die Pulsationen der Musik gefordert.
Im TA-KE-TI-NA - Konzept von Reinhard Flatischler (1990), in dem Arbeitsbuch
"Musik in Schwarzafrika" von Volker Schütz (1992) oder dem Buch über
Bodypercussion von Jürgen Zimmermann (1999) spielt die hier geschilderte Art
musikalischen Verhaltens eine große Rolle. Die Faszination, die afrikanisches
Trommeln, Obertonsingen und Didgeridoospiel auf Jugendliche ausübt, dürfte vor
allem mit den damit verbundenen sensomotorischen Erfahrungen zusammenhängen,
Erfahrungen, die - auf ihre jeweilige Art - auch die Rhythmik (Ring/ Steinmann
1997), die Musik- und Bewegungserziehung (Kugler 1995) und das Orff-Schulwerk
(Roscher 1995) vermitteln wollen. Vor allem aber machen die Jugendlichen diese
sensomotorischen Erfahrungen mit der Rockmusik, für die gilt „The Body is the
Message“ (Klein 1999). Es ist das große Verdienst des Instituts für Didaktik
populärer Musik[13], mit seinen
didaktischen Ansätzen an diesen Erfahrungen anzuknüpfen.
Praxis:
Die Besonderheiten des
sensomotorischen Zusammenhangs bei körperorientierter Musik wurde verdeutlicht
an der "Music for Bodypercussion", einem rhythmischen Bewegungsspiel
aus Schwarzafrika, an einigen TA-KE-TI-NA-Übungen von Reinhard Flatischler, an
Beispielen aus dem Orff-Schulwerk sowie an mehreren Gesten- und Spielliedern.
Die Aspekte subjektive und objektive
musikalische Realität sowie Sensomotorik betrafen die Lernvoraussetzungen der Schüler, es handelte sich um die
„didaktischen Bedingungsfelder“. Im Folgenden geht es um die „didaktischen
Entscheidungsfelder“[14], die Lernanforderungen
an die Schüler, die in den Zielen, Inhalten und Methoden des Unterrichts
zum Ausdruck kommen. Ziel ist die
Förderung der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsfähigkeit. Inhalt sind
die Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck der
Musik. Die Methode wird bestimmt
durch die Prinzipien Bewegung, Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung.
Ziele, Inhalte und Methoden stehen in enger Abhängigkeit: Das Ziel, - die
Fähigkeiten der Schüler zu fördern - bleibt illusorisch, wenn nicht die Inhalte
im Blick auf die Fähigkeiten der Schüler ausgewählt werden und angegeben wird,
auf welche Aspekte oder Kategorien der Inhalte die Fähigkeiten sich richten
sollen und welche Methoden den Zielen
und Inhalten angemessen sind. Die Fähigkeiten sagen etwas aus über die Beziehung
des Schülers zum Inhalt Musik: seine Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsfähigkeit wird von Musik in besonderer Weise angesprochen. Die
Kategorien sagen etwas über die Beziehung der Musik zum Schüler: sie erscheint
ihm körperlich, "leibhaftig", als Gestalt/Ordnung, Darstellung und
Ausdruck. Die Methode schließlich ergibt sich aus den Beziehungen zwischen den
Zielen und Inhalten.
3.
Das Ziel: Förderung der Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsfähigkeit
Pädagogische Ziele stellen - wie schon
angedeutet - die Nahtstelle zwischen Lernvoraussetzungen und -anforderungen
dar: sie benennen Verhaltensweisen oder Fähigkeiten, die in der Auseinandersetzung
mit bestimmten Inhalten entwickelt, gefördert werden sollen.
In der folgenden Grafik ist der Zusammenhang von
Bewegung und Wahrnehmung, die Sensomotorik, in der vertikalen Achse
dargestellt. Auch bei den in der horizontalen Achse aufgeführten Fähigkeiten
von Ausdruck und Kommunikation steht die Bewegung an erster Stelle, weil sie
das wichtigste Ausdrucks- und Kommunikationsmedium
ist. Dies gilt auch für die Ausdrucks- und Kommunikationsmedien Stimme und
Instrumente, die ohne Bewegung stumm bleiben müssen. Die Darstellung will
einmal die Schlüsselfunktion der Sensomotorik, zum anderen den untrennbaren
Zusammenhang der vier Fähigkeiten verdeutlichen.
Bewegung
Senso-Motorik |
||
Ausdruck Bewegung/ Stimme/Instrumente |
Kommunikation Bewegung/Stimme/Instrumente |
|
Wahrnehmung
Senso-Motorik |
·
Musikalische
Bewegung kann jede äußere oder innere
Veränderung von Lage, Stellung, Spannungszustand des Körpers oder seiner Teile
bzw. der Körpervorstellung oder des Körpergefühls sein: Bewegungen der
körpereigenen Instrumente bei Klanggesten oder beim Umgang mit Instrumenten und
Materialien, Bewegungen des Körpers am Platz (Gebärden, Gesten) oder im Raum,
(Gehen, Laufen, Tanzen usw.), Bewegungen der Mimik und der Stimme, aber auch
die inneren Bewegungen der Empfindungen, Gefühle und Assoziationen.
-
Kriterien für
Lern-/Förderfortschritte sind Angemessenheit zwischen dem musikalischen Reiz
und der Reaktion, Koordiniertheit, Strukturiertheit, Flüssigkeit, Schnelligkeit
der Bewegung sowie der Grad an Bewegungsfreude bzw. Bewegungshemmung.
·
Musikalische Wahrnehmung ist die Fähigkeit, die
Aufmerksamkeit auf bestimmte musikalische Kategorien zu konzentrieren. Die
infrage kommenden Kategorien Körperlichkeit, Gestalt/Ordnung, Darstellung und
Ausdruck werden weiter unten erläutert.
-
Kriterien
für Lern-/Förderfortschritte sind Offenheit für innere und äußere Sinneseindrücke,
körperliche Ansprechbarkeit, Reaktionsfähigkeit, die Fähigkeit, die
inhaltlichen Kategorien zu bemerken sowie die Zeitspanne von Aufmerksamkeit und
Konzentration.
·
Musikalischer
Ausdruck ist Inneres (Wahrnehmungen, Gefühle, Gedanken, Willensakte), das
durch die Ausdrucksmedien Bewegung,
motorische und klangliche Ebene der Stimme[15],
Instrumente, Materialien und elektronische Medien zum Ausdruck kommt.
-
Kriterien
für Lern-/Förderfortschritte sind Bereitschaft, sich der nonverbalen Medien zu
bedienen sowie Angemessenheit, Authentizität, Vielfalt, Farbigkeit und
Flüssigkeit des Ausdrucks.
·
Musikalische
Kommunikation sind die Akte, in denen mit Hilfe der genannten Ausdrucksmedien
Beziehungen hergestellt werden. Rhythmen, Klänge, Lieder, Bewegungen usw., die
als Kommunikationszeichen fungieren, dürfen nicht nur unter dem syntaktischen
und semantischen Aspekt ihrer Stimmigkeit und Bedeutung, sondern müssen vor
allem unter dem pragmatischen Aspekt ihres Aufforderungscharakters gesehen
werden.
-
Kriterien
für Lern-/Förderfortschritte sind Bereitschaft, sich der nonverbalen Kommunikationsmedien
zu bedienen und Kommunikationsangebote anzunehmen, Fähigkeit, Nähe und Distanz
auszuhalten sowie die bei Ausdruck genannten Kriterien.
Die vier Fähigkeiten kann man unter drei
Gesichtspunkten betrachten. Sie sind musikalische
Fähigkeiten, weil sie von Musik in besonderer Weise angesprochen werden,
für musikalische Tätigkeit unerläßlich sind und sich im Zusammenhang mit Musik
in besonderer Weise entfalten.. Sie sind allgemeine
Fähigkeiten, weil sie nicht nur für musikalisches, sondern für jegliches
Erleben und Handeln notwendig sind. Durch den Gebrauch dieser vier Sinne erhält das Leben Sinn. Sie stellen
sowohl die Basis als auch die höchste Entfaltung menschlicher Existenz dar,
machen uns zu unverwechselbaren Individuen und ermöglichen Gemeinsamkeit. Man
kann sie schließlich auch als behinderte
Fähigkeiten bezeichnen, weil in ihnen nicht nur der Reichtum, sondern
auch die Not menschlicher Existenz zum Ausdruck kommen kann. An der Art, wie
einer sich bewegt und ausdrückt, wahrnimmt und kommuniziert, kann man nicht nur
seine Stärken, sondern auch seine Schwächen und Defizite erkennen. Insofern
kann diesen Fähigkeiten eine diagnostische Funktion zukommen, wobei es weniger
um die Feststellung der Defizite, als vielmehr um die Erkundung der
Fördermöglichkeiten geht.
Der
Aspekt der behinderten Fähigkeiten soll also den Blick weniger auf die Grenzen
als vielmehr auf die Erweiterungs- und Differenzierungsmöglichkeiten lenken -
seien diese noch so gering. Der Aspekt
der allgemeinen Fähigkeiten stellt den Bezug zu ihrem alltäglichen Gebrauch[16]
her und soll eine vorschnelle Einengung auf bestimmte musikalische Techniken
und Gestaltungen verhindern. Der Aspekt der musikalischen Fähigkeiten
schließlich weist auf das Besondere musikalischer Förderung hin. Dies liegt
einmal darin, daß Musik zum lustvollen Gebrauch der Fähigkeiten stimuliert und
im Spielraum, den sie bietet. Zum anderen liegt es in den inhaltlichen
Kategorien und methodischen Prinzipien, die nun erläutert werden sollen.
Praxis:
Die bisher ausgeführten
Beispiele wurden unter dem Aspekt der schrittweisen Differenzierung der vier
Fähigkeiten unter Zuhilfenahme der bei jeder Fähigkeit genannten Kriterien betrachtet.
Eine besondere Rolle spielten Stimmspiele, Nonsensverse, Rhythmicals usw. an
denen die Bedeutung der motorischen und klanglichen Ebene des Ausdrucks- und
Kommunikationsinstruments Stimme thematisiert wurde.
4.
Die inhaltlichen Kategorien:
Körperlichkeit,
Gestalt/Ordnung, Darstellung und Ausdruck der Musik
Die Kategorien
Körperlichkeit, Gestalt/ Ordnung, Darstellung und Ausdruck bilden die Brücke
zwischen den genannten Fähigkeiten des Schülers und der Musik: Der Musik eignet
einerseits Körperlichkeit, andererseits wird sie körperlich hervorgebracht und
erlebt. Musik ist einerseits Gestalt/Ordnung, andererseits wird sie durch
gestaltende/ordnende Tätigkeit erzeugt und begriffen. Musik ist schließlich
einerseits Darstellung und Ausdruck, andererseits kann sie durch darstellendes
und ausdruckshaftes Handeln angeeignet werden. Durch diese Kategorien, die das
musikalische Verhalten der Schüler bestimmen, wird musikalisches Lernen zu
exemplarischem Lernen[17],
weil sie Elementares, Fundamentales, Exemplarisches sowohl des Inhalts Musik
als auch des musikalischen Erlebens und Handelns widerspiegeln. In ihnen wird
auch die eingangs dargestellte Doppelseitigkeit des Lernens deutlich.
·
Die
Kategorie Körperlichkeit bedeutet,
daß Musik selbst körperhaft ist und körperlich erlebt und angeeignet werden
kann[18].
Der musikalische Aneignungsprozeß in unserer Kultur hat sich - im Zusammenhang
mit der Differenzierung von Klanglichkeit, Instrumental- und Gesangstechnik,
Notenschrift usw. - in hohem Grad spezialisiert. Gleichwohl muß man sich
vergegenwärtigen, daß in aller Regel am Anfang aller Musikausübung und allen
Musikverstehens die körperliche Bewegung beim Hervorbringen von Musik auf dem
Instrument steht[19]. Es geht
dabei um Erfahrungen mit dem eigenen Körpers, der die Musik hervorbringt und es
geht um Erfahrung des jeweiligen instrumentalen Klangkörpers - während beim Sänger, der selbst Instrument ist,
beide Erfahrungen zusammenfallen. Da den meisten Schülern solche instrumental-körperlichen
Erfahrungen versagt sind, muss dem Instrument, über das sie verfügen, dem
Körper, weit grössere Beachtung geschenkt werden, und es müssen Möglichkeiten
der Verkörperlichung von Musik entwickelt werden, die der Erfahrung am Musikinstrument
vergleichbar sind.
·
Die Kategorie
Gestalt/Ordnung äußert sich in der Gestalt/Ordnung des Zeit- und Klangraums. Die
Aufmerksamkeit richtet sich auf Tempo, Metrum, Takt und Rhythmus, Tonhöhen,
Klangfarben und –ebenen, Formverläufe und –zusammenhänge usw. Die Frage ist,
welche Musik der Lehrer auswählt und welche Anregungen er gibt, damit sich
diese Kategorie im Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsverhalten der Schüler wiederfindet.
·
Die
Kategorie Darstellung ist im Spiel,
wenn sich die Aufmerksamkeit auf die musikalische Darstellung oder Nachahmung,
auf ein Programm richtet, wenn
Vorstellungen und Assoziationen eine Rolle spielen und z.B. Tiere, Maschinen,
Geschichten, Lieder, Bilder musikalisch dargestellt werden oder die Schüler auf
Phantasiereisen gehen usw. Die Frage
des Lehrers ist, wie er die Aufmerksamkeit der Schüler auf die Möglichkeiten
musikalischer Darstellung lenken und sie zu musikalischer Darstellung bei
Bewegung, Ausdruck und Kommunikation motivieren kann.
·
Die
Kategorie Ausdruck ist maßgebend, wenn sich die
Aufmerksamkeit auf die der Musik eigenen und von ihr ausgelösten Stimmungen und
Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.) richtet. Die Frage des Lehrers ist, wie er
die Aufmerksamkeit der Schüler auf musikalischen Ausdruck lenken und sie
ermutigen kann, Gefühle in ihrem musikalischen Bewegungs-, Ausdrucks- und
Kommunikationsverhalten zuzulassen?
Die Aufgabe
und Kunst des Lehrers besteht im Aufspüren und Verdeutlichen dieser Kategorien, in der Entscheidung, welche der Kategorien
für die jeweilige Musik, die jeweiligen Schüler, die jeweilige Situation am
ergiebigsten ist und vor allem im Aufzeigen der Verbindungen und Zusammenhänge
zwischen den Kategorien (Darstellung und Ausdruck müssen gestaltet werden und
Gestaltetes kann etwas darstellen oder ausdrücken).
Praxis:
Der Zusammenhang dieser
inhaltlichen Kategorien wurde einmal an schon durchgeführten Beispielen, zum
andern an Schülergestaltungen der "Kleinen Nachtmusik" und der
"Zauberflöte" von W. A. Mozart verdeutlicht.
5.
Methodische Prinzipien:
Bewegung,
Wiederholung, Stimulierung-Strukturierung
Die drei
methodischen Prinzipien sind eng mit dem Ziel und den inhaltlichen Kategorien
verbunden. Durch sie soll vor allem deutlich werden, daß es weniger darauf
ankommt, daß Musik gemacht und gehört wird, daß man sich bewegt, sondern vielmehr
darauf, wie dies geschieht. Das ”Wie” wird durch die drei folgenden Prinzipien
wesentlich bestimmt.
·
Bewegung ist nicht
nur eine menschliche Fähigkeit und eine Eigenschaft der Musik, sondern auch das
wesentlichste methodische Prinzip. Methode bedeutet Weg und das Wort Weg bildet
den Kern des Wortes Bewegung. Der Weg ist zugleich das Ziel. Nur wer sich auf
den Weg macht, in Bewegung bleibt, kommt weiter. Dieses Prinzip besagt, daß die
Schüler immer wieder auf die sensomotorische Ebene gelockt, in Bewegungszusammenhänge
involviert werden müssen. Der Lehrer muss sich fragen, wie sich ein
Unterrichtsthema (z.B. ein Lied, Musikstück, musikalische Formen oder Begriffe
usw.) auf der sensomotorischen Ebene vermitteln lässt.[20]
·
Bei der Wiederholung[21] - wenn etwas zum zweiten bzw. zum x-ten
Mal geschieht – wird das erste Mal (und alle dazwischen liegenden Male) aus der
Erinnerung in die Gegenwart geholt. Wiederholung ist das wichtigste
formbildende Prinzip der Musik und eine wesentliche Quelle der Lust an Musik.
Im Wiederholen versichern wir uns und gewinnen Sicherheit. Nur durch
Wiederholung prägt sich die Zeitgestalt Musik dem Gedächtnis und nur durch
Wiederholung kommt ein Lernergebnis - die Verbindungen zwischen den Neuronen –
zustande. Musikalische Wiederholung als lebendige Bewegung – besonders als Variante
und Sequenz – ist gleich und doch immer wieder neu, was die Aufmerksamkeit erhöht.
Das Unvermögen von Schülern rührt häufig daher, daß die Möglichkeiten des Wiederholens
nicht genutzt werden. Der Lehrer muss dafür sorgen, dass genügend Zeit für
Wiederholungen bleibt, dass die Schüler in die musikalische Zeit (Groove, Swing) hineinkommen und lange genug
darin bleiben können, und er muß die klanglichen, dynamischen und tempomäßigen Variationsmöglichkeiten
beim Wiederholen nutzen.
·
Das Prinzip
Stimulierung-Strukturierung bedeutet, daß Musik einerseits innere
und äußere Bewegung provoziert, Assoziationen und Emotionen freisetzt und
andererseits Ordnung, Regelhaftigkeit, Struktur vermittelt. Die Spannung bzw.
Balance zwischen beiden Polen, die schon als wesentlichen Grund für die Lust an
der Musik genannt wurde, ist das Eigentliche musikalischen Erlebens. Sie stellt
sich jedoch in der Regel nicht von selbst ein, sondern entsteht durch die Animation
einerseits und die Sicherheit andererseits, die der Lehrer ausstrahlen muß. Er
muss sich über die stimulierenden und die strukturierenden Elemente des
jeweiligen Unterrichtsthemas im Klaren sein[22]
und versuchen, die Schüler in die Spannung zwischen beiden zu involvieren.
Das hier vorgestellte Konzept will Schüler nicht nur bei ihren sensomotorischen Fähigkeiten abholen, sondern sie auch dorthin führen: zu ihren eigenen musikalischen Bewegungs-, Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten. Es hat vor allem die Schüler im Blick, die außerhalb der Schule kaum Möglichkeit zum musikalischen Lernen haben und die dem Fach Musik im besten Fall neutral gegenüber stehen, die bewegungs-, ausdrucks-, wahrnehmungs- und kommunikationsfähig sind, zum musikalischen Gebrauch dieser Fähigkeiten jedoch motiviert und animiert werden müssen. Dies dürfte die Mehrheit der Schüler sein.
Es sollte deutlich werden, wie wichtig der Lehrer bei der Verwirklichung dieses Konzepts ist und daß die gegenwärtige Lehrerausbildung ihn für den hier intendierten Musikunterricht nur unzureichend qualifiziert. Was den musikalischen Aspekt des Studiums angeht, so müßte die „Körperarbeit“ dasselbe Gewicht wie die Beschäftigung mit dem Musikinstrument erhalten, es müßte der Improvisation und dem Experiment das gleiche Gewicht wie der Reproduktion zukommen, körpernahe bzw. perkussive Musik wie ethnische und Rockmusik müßten eine größere Rolle spielen, und auch beim Umgang mit der „klassischen Musik“ müssten Bewegung, Spiel und Tanz stärker einbezogen werden. Was den pädagogischen Aspekt des Studiums angeht, so müßte mehr Gewicht gelegt werden auf die Vermittlung der psychologischen und neurophysiologischen Grundlagen des Lernens, auf die Entwicklung von Strategien und Kriterien für die Förderung des Schülers und vor allem auf die Frage, wie Schüler zu all dem animiert und motiviert werden können.
Die Ausführungen gingen in erster Linie vom
Fundament für musikalisches Lernen aus. Ohne solides Fundament hat weder ein
Haus noch das Lernen der Schüler eine Perspektive. Ein Fundament aber, auf dem
gar nicht weitergebaut wird, in dem man jedoch wohnen und sich wohl fühlen
kann, wäre immer noch besser, als ein Dachgeschoss, in das man gar nicht hineinkommt.
Durch die genannten Kriterien für die Fähigkeiten, die inhaltlichen Kategorien
und die methodischen Prinzipien dürften jedoch auch Möglichkeiten eines Aufbaus
deutlich geworden sein. Obwohl das Subjekt im Vordergrund steht, wird das
Objekt des Musikunterrichts, die „musikalische Kultur“ als Lernanforderung
dabei nicht auf der Strecke bleiben, weil sie nur dann wirklich vermittelt,
angeeignet werden kann, wenn sie die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und
Schüler, ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten berücksichtigt.
Anmerkungen:
[1] Ich bitte um Nachsicht, wenn – der
besseren Lesbarkeit wegen – nur die männliche Form Verwendung findet.
[2] Bildung ist zu verstehen als ein
"aktiver Aneignungsvorgang, in dem sich die ...Wirklichkeit für den ... Menschen
'aufschließt', zugänglich, verstehbar, kritisierbar, veränderbar wird, und in
dem gleichzeitig das Subjekt sich für ... Wirklichkeit 'aufschließt', also
Verständnis-, Handlungs-, Verantwortungsmöglichkeiten in sich entfaltet; beide
Aspekte sind Momente eines einheitlichen Prozesses....Angesichts der unendlichen
Fülle ....ist dies aber nur möglich, wenn es gelingt, jene Fülle des Konkreten
...auf ein Gefüge von Kategorien zurückzuführen" (Klafki, 1991, S.96)
[3] "Jedes Kind kann auf jeder
Entwicklungsstufe jeder Lehrgegenstand in einer intellektuell ehrlichen Form
erfolgreich gelehrt werden....Ein Kind bestimmten Alters in einem
Lehrgegenstand zu unterrichten bedeutet, die Struktur dieses Gegenstands in der
Art und Weise darzustellen, wie das Kind Dinge betrachtet." (Bruner 1980,
S. 44)
[4] Die Theorien von Piaget sind gut
dargestellt in: Pulaski, M. A.: Piaget - eine Einführung in seine Theorien und
sein Werk. Frankfurt 1978
[5] Die Schule ist nicht
der Ort für Therapie, weil die Schüler nicht krank sind, der Lehrer kein
Therapeut, die Schule keine therapeutische Institution und der Musikunterricht
in der Regel keine therapeutische Situation ist. Der Musiktherapeut muß etwas
von Krankheit, Diagnose und den Möglichkeiten der Intervention verstehen. Er
arbeitet in der Regel mit Medizinern und Psychologen im Team oder hat
zusätzlich zur musikalischen eine medizinische oder psychologische
Qualifikation.
[6] Vgl. Sussmann, F.: Pop aktiv. Mainz 1988
[7] Vgl. Klauer, A.: „Eine kleine
Nachtmusik“ zum Mitspielen. In: Die grünen Hefte Juni 1990
[8] Vgl. dazu Thompson 1994, S. 338
[9] In dem Beitrag "Sensomotorisches
und musikalisches Lernen" (1997)
habe ich den gestörten und wiederherzustellenden sensomotorischen Bezug als ein
"Schlüsselproblem" der Pädagogik beschrieben.
[10] Auch die von Gestalttheoretikern (Ehrenfels),
-psychologen (W. Stern) und -therapeuten (Polster) entwickelten Kriterien der
"Geschlossenen Gestalt" sowie die Kriterien Präsenzzeit,
Jetzt-Prinzip, Lebendige Figur, Awareness,
könnten zur Erklärung der Eigenart musikalischen Erlebens und der Lust an der
Musik herangezogen werden.
[11]
„Die Lust ist von zentraler
Bedeutung für den Assoziationsprozeß. Sie ist ein seinem Wesen nach dynamisches
Prinzip, das der Plastizität des Nervensystems ermöglicht, sich Ausdruck zu
verschaffen.“ (Vincent 1992 S. 207)
[12] Feldenkrais 1992, S.20
[13] Institut für Didaktik populärer Musik -
W. D. Lugert, 21436 Oldershausen
[14] Vgl. Blankertz, 1972, S. 101f
[15] Die motorische Ebene kann man
beobachten, wenn der Säugling oder das Kleinkind mit den stimmlichen Bewegungsmöglichkeiten
spielt und dabei die vielfältigsten Klänge, Laute und Geräusche produziert. Von
der klanglichen Ebene ist die Rede, wenn das Kind dem Klang der Stimme
Zuwendung, Unruhe, Ärger usw. entnimmt, bzw. wenn man dem Klang der Stimme die
"Gestimmtheit" des Kindes entnehmen kann. Beide Ebenen, die der
Bedeutungsebene entwicklungsgeschichtlich vorausgehen und sie dann
"begleiten", kann man als die musikalischen Ebenen der Stimme
ansehen. S. dazu Amrhein, F.: Sprachförderung im Musikunterricht. In. Schütz,
V. (Hg.): Musikunterricht heute. Oldershausen 1996
[16] Dass der musikalische Gebrauch dieser
Fähigkeiten sich auch auf das allgemeine Verhalten auswirkt, dafür liefert die
Langzeitstudie Musik(erziehung) und ihre
Wirkung von G. Bastian (2000) eindrucksvolle Belege
[17] Lernen, das die Selbständigkeit des
Lernenden fördert,...wird nicht durch die Übernahme vieler Einzelkenntnisse und
–fähigkeiten gewonnen, sondern dadurch, daß sich der Lernende an einer
begrenzten Zahl von Beispielen (Exempeln)...verallgemeinerbare Kenntnisse und Fähigkeiten
erarbeitet, m.a.W.: Wesentliches, Strukturelles, Prinzipielles...Man kann
diese... Erkenntnisse und Fähigkeiten....”kategorial” nennen. ...Kategoriale
Bildung meint das Sichtbarwerden von allgemeinen, kategorial erhellenden Inhalten
auf der objektiven Seite und das Aufgehen allgemeiner Einsichten, Erlebnisse,
Erfahrungen auf der Seite des Subjekts.” (Klafki 1991, S.143f.)
[18] Wenn Musik auch kein Körper im Sinn
eines faßbaren Gegenstands ist, so eignet ihr doch in einem übertragenen Sinn
Körperlichkeit: Wir erleben ihre Gestalthaftigkeit, ihre Proportionen und
Strukturen als Entfaltung im Zeit- und Klangraum, bezeichnen die musizierenden
Stimmen und Instrumente als Klangkörper, sind bei "Bodymusic" selbst
ein solcher Klangkörper. Wenn "Musik in die Füße geht", wird sie körperlich
wahrgenommen. Vgl. auch den Abschnitt "Leibhaftige Musik" in Amrhein
1997, ebenso Richter, Ch.: "Verkörperung von Musik" In: Musik &
Bildung 2/1995
[19] Der Musiklehrer vergißt zu leicht, daß
er Musik verstehen kann, weil er zahllose Stunden mit Üben zugebracht hat, weil
er Musik so oft auf dem Instrument gegriffen hat, kann er sie ein Stück weit
begreifen. Nicht zu vergessen ist die Rolle der ständigen
"Anschauung" durch das Notenbild. Musikalisches Lernen ist vor allem
"instrumentales" Lernen. Weil den allermeisten Schülern solche
Erfahrungen nicht möglich sind, sind sie um so mehr auf das Begreifen durch das
Instrument ihres Körpers angewiesen.
[20]
Die Vermittlung dieser
Bewegungserfahrungen verlangt vom Lehrer Einfühlungsvermögen und Fantasie, weil
bei den Schülern mit Bewegungshemmungen gerechnet werden muß, deren Ursachen
jedoch weniger in der Natur als in den gesellschaftlichen Bedingungen liegen.
Gleichwohl müssen die Schüler mit Geduld und Beharrlichkeit zu diesen
unersetzlichen Erfahrungen ermutigt werden. In jedem Fall muß sich der Lehrer
auch fragen, ob nicht die Bewegungshemmungen der Schüler auch mit seinen
eigenen zusammenhängen.
[21] Siehe auch Richter, Ch.: Über den
(ästhetischen) Reiz der Wiederholung. In: Ott/Loesch (Hg.): Musik befragt,
Musik vermittelt. Augsburg 1996
[22] Stimulierende und zugleich
strukturierende Elemente eines Liedes können z.B. der gefällige Inhalt, der witzige
Text, die ansprechende Melodie, der zündende Refrain, ein Begleitrhythmus, eine
dynamische Besonderheit (z.B. plötzliches piano), eine Bewegungsgestaltung,
eine Pause usw. sein. Ob das jeweilige Element mehr stimulierend oder mehr
strukturierend wirkt, hängt wesentlich von der Präsentation durch den Lehrer
ab.
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