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Franz Amrhein

 

Lustvolle Integration der Sinne - die Bedeutung der Musik

für die Bewegungserziehung

 

 

Während es viele Arten von Bewegung und Bewegungserziehung gibt, die ohne Musik auskommen, können weder Musik noch Musikerziehung auf Bewegung verzichten, weil Musik erst durch Bewegung (des Körpers, der Luft, eines Materials oder Instruments) entsteht. Auch Musikerziehung zielt weniger auf Töne und Klänge, sondern vielmehr auf das, was zwischen ihnen passiert, auf ihre Bewegungen. Welchen Gewinn haben also Bewegung und Bewegungserziehung, wenn sie sich mit Musik verbinden? Im Folgenden werden die Gründe für die Verbindung von Musik und Bewegung, die zur „lustvollen Integration der Sinne“ führt, sowie Kategorien für diese Verbindung erläutert.

 

1. Neurophysiologische und psychologische Argumente

 

Der Zusammenhang von Bewegung und Musik hat ganz allgemein seinen Grund in der unlöslichen Verbindung unseres motorischen und sensorischen Nervensystems, der Sensomotorik (vgl. Zimmer 1993/95). Ganz speziell sind für diesen Zusammenhang vor allem die Verbindungen zwischen vestibulärem und cochlearem System im Innenohr sowie die zwischen den motorischen und hörsensorischen Arealen im Mittelhirn und in der Hirnrinde maßgebend. Eine Rolle spielen auch die Eigenarten sowie die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften (vgl. Amrhein 1997 und 2004).

 

Die neurophysiologischen Tatsachen bilden die Basis für Entwickung und Psyche. Nach Piaget vollzieht sich die menschliche Entwicklung in aufeinanderfolgenden Perioden, deren erste und grundlegende er als die „sensumotorische“ bezeichnet. Aus dem Kreislauf von Wahrnehmung und Bewegung, der bereits im Mutterleib ausgeprägt ist, entwickeln sich später die Ebenen des bewussten Fühlens und Denkens. Diese „höheren“ Tätigkeiten des Gehirns sind stets auf das Funktionieren der basalen sensomotorischen Fähigkeiten angewiesen und man kann davon ausgehen, dass Lernen auf der sensomotorische Ebene sich auch auf die emotionale und kognitive Ebene auswirkt. Ein Buchtitel des Neurologen Antonio Damasio lautet: „Body and Emotion in the Making of Consciousness” (2000) – „die Bedeutung von Körper und Gefühl für die Entwicklung des Bewusstseins“. (Der deutsche Titel lautet verkürzt „Ich fühle, also bin ich“) Anstelle von Körper und Gefühl könnte man auch Bewegung und Musik sagen.

 

2. „Lustvolle Integration der Sinne“

 

Aus den Fähigkeiten von Bewegung und Wahrnehmung erwächst das Bedürfnis, zwischen beiden die Balance herzustellen. Der Biologe Wolfgang Wieser sieht die gestörte Balance als eine Ursache für Frustration an, die sich dann einstelle, “wenn dem Übermaß des Reizangebots ohne motorische Konsequenz ein Übermaß an motorischer Aktivität ohne sensorische Relevanz entspricht." (Wieser 1979, S. 54) Die Folgen von Frustration aber sind Aggression, Regression und Apathie.

 

Wenn uns dagegen die Balance zwischen Wahrnehmung und Bewegung gelingt, wenn wir auf die Sinneseindrücke angemessen reagieren können, empfinden wir das Gegenteil von Frustration, nämlich Befriedigung, Wohlbefinden, Lust und Spaß. Jean Ayres weist darauf hin, wie wichtig Wohlbefinden und Spaß für das Gelingen der „Sensorischen Integration“ sind. (Ayres 1984, S. 9f.) Drei Gründe sprechen dafür, daß Musik in Verbindung mit Bewegung die lustvolle Integration der Sinne fördert:

 

§         Musik stellt einen lustvollen Reiz dar. Solche Reize machen die motorischen Kanäle durchlässiger, sodass wir wie von selbst agieren, während Unlust erregende Reize die motorischen Kanäle schließen und Beweglichkeit behindern. (Vgl. Vincent 1992, S. 207) Außerdem spielen, wenn Musik und Bewegung zusammenkommen, Lächeln und Lachen eine große Rolle. Moshé Feldenkrais sagt, dass Lernen, bei dem man lächeln kann, besonders fruchtbar sei (1994, S. 20).

§         Wiederholung sorgt dafür, dass wir uns im Leben zurechtfinden, sie ist für jegliches Lernen unerläßlich und sie ist ein wesentliches Prinzip der Musik. Sie hält die musikalische Bewegung in Gang und sorgt für Orientierung und Sicherheit. Bei musikalischer Wiederholung erscheint durch die Variationsmöglichkeiten von Melodie, Harmonie, Tempo usw. bereits Vertrautes in immer wieder neuen Licht. Auch beim Bewegungslernen werden durch Wiederholung „aus isolierten Bewegungsimpulsen gekonnte Bewegungen – ‚kinetische Melodien’“ (Lurija (1992, S. 177). Die wiederkehrenden Impulse von Metrum, Takt und Rhythmus sowie die melodischen Gliederungen geben der Bewegung Halt. Das Wieder-Holen zur Musik wird als lustvoll erlebt, fördert die Lust an der Bewegung und gibt ihr einen eigenen Drive.

§         Ein weiteres Prinzip der Musik ist die Polarität Stimulierung-Strukturierung. Sie ist in dem Begriff des Rhythmus enthalten und meint, dass, wer sich auf Musik einlässt, sie einerseits als etwas Stimulierendes, Fließendes, Entgrenzendes, andererseits als etwas Strukturierendes, Gliederndes, Ordnendes erlebt. Das Involviertsein in die Spannung zwischen Entgrenzung und Grenzsetzung, Freiheit und Bindung, Emotionalität und Rationalität, ist ein wesentliches Moment der Lust an der Musik, die sich auch auf die Bewegung zur Musik überträgt.

 

3. Soziologische Argumente: Entkörperlichung und Körperlichkeit der Musik

 

Dass der Zusammenhang von Musik und Bewegung in Erziehung und Schule bei uns eine relativ bescheidene Rolle spielt, hängt vor allem mit der Entwicklung der mitteleuropäischen Kunstmusik zusammen, mit ihrer einzigartigen klanglichen Entfaltung, ihrer Spiritualität und ihrer Existenz als Schriftkultur. Die großartigen Kunstwerke - Konzerte, Lieder, Sinfonien, Opern usw. – konnten jedoch nur um den Preis der Trennung von Musik und körperlicher Bewegung entstehen. (Vgl. Blaukopf 1984, S. 206ff)

 

Zwei Wege, Musik und Bewegung zusammenzuführen bieten sich an:

 

§         Die sog. klassische Musik hat nicht nur Melodie und Harmonie, sondern auch Rhythmus und Bewegung und man muss sich ihr gegenüber nicht bewegungslos verhalten. Wie durch Bewegung und Tanz auch klassische Musik vermittelt und angeeignet werden kann, zeigen Bergmann & Reusch (1988), wie dies durch Bewegung mit elementaren Instrument gehen kann, zeigen Neuhäuser u.a. in den „Mitspielmusiken“ (1982ff). Anregungen dazu geben auch die unten angeführten Beispiele.

§         Der zweite Weg führt zu Kulturen, in denen die Verbindung zwischen Musik und Bewegung selbstverständlich ist, vor allem zur Musik Schwarzafrikas (vgl. Schütz 1992) und zur Rockmusik  (vgl. Klein 1999).

 

4. Gemeinsame Kategorien von Musik und Bewegung

 

Will man etwas über den Zusammenhang von zwei Gegebenheiten aussagen, muss man nach Kategorien suchen, die für beide zutreffen. Für die Gegebenheiten Musik und Bewegung sind dies die vier Kategorien Körperlichkeit, Gestalt, Darstellung und Ausdruck. Sowohl Musik als auch Bewegung sind auf einen Körper angewiesen, der sie hervorbringt. Sowohl durch Musik als auch durch Bewegung kann etwas gestaltet, etwas dargestellt und etwas ausgedrückt werden.

§         Die Kategorie Körperlichkeit bedeutet, dass Musik und Bewegung körperhaft sind und körperlich erlebt und angeeignet werden, dass der Körper als Ursprung von Musik und Bewegung Ernst genommen werden muss. Es geht vor allem um das Körperbild und das Körpergefühl bei Musik und Bewegung und um die Erfahrung des Körpers als bewegten „Klangkörper“. Diese Kategorie verdeutlicht ein Bewegungsspiel aus Schwarzafrika, bei dem es vor allem um das Zusammenspiel zwischen Füßen, Händen und Stimme sowie um die Spannung zwischen Metrum und Rhythmus geht.  (Siehe Beispiel 1)

§         Die Kategorie Gestalt bedeutet, dass Musik und Bewegung nach bestimmten Regeln geordnet oder gestaltet sind. Beide kennen vorher, nachher oder gleichzeitig, Wiederholung, Entwicklung, Veränderung und Variation. Musik- und Bewegungsgestalten haben Tempo und Rhythmus sowie Qualitäten wie hart, weich, schwer, leicht usw., die sich entsprechen. Aus einer musikalischen Gestalt kann eine Bewegungsgestalt werden und umgekehrt.

Beispiel: Bei dem Bewegungsspiel zur Musik "Hands Up – Give Me Your Heart" der Gruppe Ottawan (vgl. Sussmann 1988, S. 44) „sagen’s die Ohren den Händen und Füssen und diese wiederum sagen’s den Ohren“. Bei dem Meditationstanz zur Air aus der Orchestersuite Nr. 4 in D-dur von J. S. Bach wird die Bewegung vom Zeitmaß und der Gliederung der musikalischen Gestalt getragen und gestaltet. (Siehe Beispiel 2)

§         Die Kategorie Darstellung meint, dass Musik und Bewegung Assoziationen hervorrufen, dass durch beide etwas, das in der Realität oder der Vorstellung vorhanden ist, analog dargestellt werden kann (z. B. Gegenstände, Personen, Tiere, Geschichten, Bilder, ein "Programm").

Beispiel: Beim "Katzenduett" von G. Rossini oder beim "Tanz der Kücklein in ihren Eierschalen" aus den Bildern einer Ausstellung von M. Moussorgski (in der Synthesizer-Bearbeitung von Tomita) kann die körperliche Darstellung von der musikalischen inspiriert werden.

§         Die Kategorie Ausdruck bedeutet, dass durch Musik und durch Bewegung Empfindungen, Gefühle (Freude, Trauer, Zorn usw.), Stimmungen, Stimmungswechsel, Affekte usw. ausgedrückt und hervorgerufen werden können.

Beispiel: Die Art, wie Freude in der Eingangsmusik des Weihnachtsoratoriums von J. S. Bach und die Art, wie Trauer in der "Funeralmusic for Queen Mary“ von H. Purcell zum Ausdruck kommen, kann bestimmend sein für den Ausdruck der Bewegung.

Während Körperlichkeit sowohl der Musik als auch der Bewegung immanent ist, haben die drei letztgenannten Kategorien bei der jeweiligen Musik und der jeweiligen Bewegung gewöhnlich unterschiedliches Gewicht. Sie hängen jedoch eng zusammen, weil  eine Gestalt auch etwas darstellen und ausdrücken kann und weil Darstellung und Ausdruck auch gestaltet werden müssen. Diese Kategorien kann man als das „Exemplarische“ sowohl von Musik als auch von Bewegung bezeichnen, weil sie wesentliche Eigenheiten von beiden sind. Zugleich sagen diese Kategorien, welche Fähigkeiten im Zusammenhang von Musik und Bewegung geweckt und gefördert werden: es geht um eine Erfahrung des eigenen Körpers, die als „lustvolle Integration der Sinne“ bezeichnet wurde und die ohne Musik so nicht erlebt werden kann. Und es geht darum, durch Musik die körperlichen Gestaltungs-, Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten zu differenzieren und zu bereichern.

 

Beispiel 1

 

Beispiel 2

 

Meditationstanz zur Air aus der Orchestersuite Nr. 3 in D-dur von J.S.Bach (nach Bernhard Wosien)

 

Kreis, lockere Handfassung, jeweils 2 Takte (8 Schritte)

1: li zurück – 2: re zurück – 3: vorpendeln – 4: zurückpendeln

5: li vor – 6: re vor – 7:li seit – 8: re ranstellen

 

Literatur:

 

Amrhein, F.: Sensomotorisches und musikalisches Lernen. In Schütz, V./ Bähr, J. (Hg.): Musikunterricht  heute 2. Lugert, Oldershausen 1997

Ders.: Soziale Aspekte von Musik- und Tanzerziehung. In: Orff-Schulwerk-Informationen 65/2000, Salzburg

Ders.: Den Musikunterricht auf die Füsse stellen – die Bedeutung der Musik für musikalisches Lernen. Monographie 1 Hochschule für Musik und Theater Hannover 2001

Ders.: Musik und Bewegung. In: Hartogh/Wickel (Hg.): Handbuch Musik in der Sozialen Arbeit. Juventa, München 2004

Ayres, J.: Bausteine der kindlichen Entwicklung. Springer, Berlin 1984 

Bergmann, A./ Reusch, A.: Musik zum Bewegen. Diesterweg, Frankfurt 1988

Blaukopf, K.: Musik im Wandel der Gesellschaft - Grundzüge der Musiksoziologie. Bärenreiter, Kassel 1984

Damasio, R. A.. Ich fühle, also bin ich - die Entschlüsselung des Bewusstseins. List,  München 2000

Klein, G.: Electronic Vibration – Pop Kultur Theorie. Zweitausendeins, Hamburg 1999

Lurija, A.: Einführung in die Neuropsychologie. Rowohlt, Reinbek 1992

Neuhäuser, B. u. a.: Musik zum Mitmachen. Diesterweg, Frankfurt 1982ff

Piaget, J.: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. Klett, Stuttgart 1974

Schütz, V.: Musik in Schwarzafrika. Lugert, Oldershausen 1992 

Sussmann, F.: Pop aktiv. Schott, Mainz 1988

Tomatis, A.: Der Klang des Lebens. Rowohlt, Reinbek 1987

Wieser, W.: Über die Einheit von Wahrnehmung und Verhalten in der technischen Welt. In: Wichmann, H. (Hrsg.): Der Mensch ohne Hand. Fischer, München 1979

Zimmer, R.: Handbuch der Bewegungserziehung. Herder, Freiburg 1993

Diess.: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Herder, Freiburg 1995

 

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